Details

Herausgeber Welzer, Harald; Soeffner, Hans-Georg; Giesecke, Dana (Hg.)
Verlag Campus
Auflage/ Erscheinungsjahr 12.04.2010
Format 21,3 × 14 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 304 Seiten
Gewicht 379
ISBN 9783593391953

Zu diesem Buch

Nach wie vor hängen viele der Vorstellung an, für die Beforschung eines behaupteten Klimawandels seien allenfalls Meteorologen, Meereskundler und Weltuntergangspropheten zuständig. Ausgeblendet wird, dass die längst stattfindenden klimatischen Veränderungsprozesse, die absehbar an kritische Grenzen stoßen werden, indes alle Menschen, Kulturen und Gesellschaften mit Problemdimensionen konfrontieren werden, die von den meisten in ihrer Tragweite derzeizt noch nicht annähernd begriffenen – und in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt – derzeit massiv verdrängt werden.

Sich mit den kommenden Umwälzungen durchgreifend und lösungsorientiert zu befassen, stellt längst nicht alleine eine technologische, sondern insbesondere eine kulturelle Aufgabe dar, die an Substanz gehen wird. - Sie betrifft den Lebensstil ebenso wie Fantasie und Erfindungsgabe. Die Kulturwissenschaften haben bz. hätten hier die Funktion, die Befunde der Klimaforschung in ihrer sozialen Tragweite einschätzbarer zu machen: Themen wären hier Fragen der Generationengerechtigkeit, der auf Pump betriebenen grandiosen Verschwendungskultur, des Verkehrs, der Ausbeutung und Beschädigung der noch nicht Geborenen. Kurzum: um die Fragen, was ein ressourcenbasiertes, (mit-)menschenverträgliches und wirklich gutes Leben unter den Verhältnssen eigentlich möglich macht.

»Schon diese wenigen Hinweise genügen, um deutlich zu machen, dass der anthropogene Klimawandel ein Phänomen darstellt, das der Expertise der geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen dringend bedarf: beginnend mit der Frage, innerhalb welcher historischer und kultureller Referenzrahmen ein solches Phänomen überhaupt gedeutet wird. Die Expertise betrifft den historischen Erfahrungshaushalt in Bezug auf antizipierte, gefühlte oder erlebte Katastrophen genauso wie die dazugehörigen Deutungsrahmen. Sie bezieht sich ebenso auf die kulturellen Praktiken und Sinnkontexte, die zur Verursachung anthropogenen Klimawandels geführt haben, wie auch auf das weite Feld seiner gesellschaftlichen, politischen, psychologischen und juristischen Bearbeitung. Nicht zuletzt fordert sie das menschliche Deutungs- und Sinngebungspotential heraus: die philosophische Bearbeitung von Aspekten der Gerechtigkeit und Verantwortung sowie die philologische beziehungsweise literarische Sprachkritik und die wissenssoziologische Analyse kollektiver Deutungsfiguren.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich, wie eklatant das Versäumnis der Geistes- und Kulturwissenschaften ist, die das Feld der KlimaKulturen bislang weitestgehend unbestellt gelassen haben – und es ist selbst erklärungsbedürftig, warum dies so ist.

Der wichtigste Grund für den auch in anderen Hinsichten zu verzeichnenden Rückzug der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften aus der gegenstandsbezogenen Theoriebildung und vor allem aus dem öffentlichen und politischen Diskurs ist aus unserer Sicht begründet durch den Systemzusammenbruch des Ostblocks im Jahr 1989. Nicht nur wurde diese tiefgreifende Veränderung der weltpolitischen Figuration von niemandem, eben auch nicht von den dafür eigentlich zuständigen Deutungswissenschaften, vorhergesehen; für viele Kolleginnen und Kollegen wurden mit diesem Ereignis auch die bis dahin gültigen Bezugstheorien ihrer jeweiligen disziplinären Arbeit fragwürdig – seien sie marxistischer oder systemtheoretischer Art gewesen. In nicht wenigen soziologischen oder politikwissenschaftlichen Seminaren las man ab dem Sommersemester 1990 nicht mehr Marx, sondern Weber, und das war, wie wir im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte Fachgeschichten wissen, nicht der einzige turn, der die geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer in der Folgezeit beschäftigen sollte.

›Discoursive‹, ›iconic‹, ›visual‹, ›narrative‹ etc. hießen die unablässig aufeinander folgenden weiteren turns, die neben einer gewissen theoretischen Sterilität und weitgehender Empirieferne vor allem eines leisteten: die Gegenstandsbereiche der Geistes- und Kulturwissenschaften immer weiter aus dem Bereich der gesellschaftlichen Problemlagen heraus- und in die esoterische Welt der Diskurse hineinzumanövrieren. Eben diese Selbstgenügsamkeit des Existierens in den weltfreien Räumen des schieren und selbstzufriedenen Intellektualismus hat dazu geführt, dass mit dem kritischen Potential der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften auch ihre Fähigkeit entfiel, Gegebenes zu transzendieren – was sich unter anderem darin spiegelt, wie Michael Hagner in diesem Band darlegt, dass ihnen die Zukunft abhanden kam und damit notwendigerweise auch die fundamentale Sorge um die eigene und die gemeinsame Existenz. Mit dieser Zukunftsvergessenheit haben die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften erheblich zur Entpolitisierung des öffentlichen Raumes beigetragen.« (aus der Einleitung)

Über die Herausgeber

Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und lehrt Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke und an der Emory University Atlanta.

Hans-Georg Soeffner ist Prof. em. für Allgemeine Soziologie, Fellow und Vorstandsmitglied am KWI und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Dana Giesecke, Soziologin, leitet die Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am KWI.

Kaufoption

35,00 €