Details

Autor Fleury, Cynthia
Verlag Suhrkamp
Auflage/ Erscheinungsjahr 19.06.2023
Format 22 × 14.6 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 316 Seiten
Gewicht 478
Reihe Suhrkamp Wissenschaft
ISBN 9783518587959

Die politische Philosophie und die Psychoanalyse teilen ein Problem, das sowohl für das Leben der Menschen als auch für die Gesellschaft eine Gefährdung darstellt: die dumpfe Unzufriedenheit, diese Bitterkeit, die unter die Haut gehen kann – das Ressentiment. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury begibt sich in ihrem vom französischen Feuilleton gefeierten Buch auf die Suche nach den Ursprüngen und dem innersten Wesen des Ressentiments.

Fleury taucht dazu tief ein in die einschlägigen Überlegungen von Friedrich Nietzsche, Max Scheler, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Frantz Fanon und entwickelt eine klinische Sichtweise: Für einen Patienten besteht das Ziel der Therapie nicht allein in Erkenntnis und Wissen, sondern in der Fähigkeit, durch das eigene Leiden hindurch wieder zum Handeln zu gelangen. Auf der Ebene kollektiver Prozesse des Ressentiments, die in unserer globalisierten Welt mit zunehmender Heftigkeit auftreten, steht das Verhältnis von Psyche und Politik im Zentrum: Der demokratische Rechtsstaat ist in dieser Perspektive nicht nur ein institutionelles Verfahren, sondern auch eine notwendige Form der »Fürsorge«, um zu verhindern, dass die Bürgerinnen in Ressentiments abgleiten. Eine faszinierende Untersuchung an der Schnittstelle von Philosophie, Psychoanalyse und Politik.

Aus der Einleitung

"Woher kommt die Bitterkeit? Vom Leiden und von der verschwundenen Kindheit, wird sogleich gesagt. Seit der Kindheit spielt sich etwas mit dem Bitteren und dem Realen ab, das unsere heile Welt sprengt. Hier liegt die Mutter (la mère) begraben, hier liegt das Meer (la mer) begraben. Jeder wird seinen Weg gehen, doch alle kennen die Verbindung zwischen der möglichen Sublimierung (la mer – das Meer), der elterlichen Trennung (la mère – die Mutter) und dem Schmerz (l’amer – das Bittere), diese Melancholie, die sich nicht von selbst löst. Ich glaube nicht an essentialisierte Bereiche – zweifellos sterben manche Menschen an dieser Illusion oder durch sie –, ich verfechte dialektisierte Bereiche. L’amer, la mère, le mer (das Bittere, die Mutter, das Meer), alles ist miteinander verknüpft – die Mutter ist auch der Vater, der Elternteil, das Diesseits der Trennung, das, wovon man sich nicht trennen will, das, was nur in Bezug auf die Trennung Sinn macht, das, was man selbst werden muss, Eltern für andere, seien es die eigenen
Kinder oder nicht, Eltern in dem Sinne, dass man ein Stück weit die Notwendigkeit der Übertragung akzeptiert.

Man muss das Bittere begraben. Und darauf wächst etwas anderes. Kein Boden ist jemals für immer verflucht: eine bittere Fruchtbarkeit, die das künftige Verständnis begründet. Das Bittere begraben oder sich ihm stellen, diese Frage ist nicht wirklich wichtig: In der Klinik, mit den Patienten, tun wir das eine und das andere, eines nach dem anderen, das eine trotz des anderen; auch hier gibt es immer einen Rest, als ob das Unheilbare bestehen bliebe, aber es gibt den Stand,1 in dem sich die Gesundheit der Seele erholt. Und die Herausforderung für den Analysanden besteht darin, ihn zu verstärken.

Wenn Melville zu Beginn seines Buches Ismael über die unermüdliche Suche nach dem weißen Wal sprechen lässt, beschreibt er die Form von Unwohlsein, die ihn packt, und vor allem die existentielle Ressource, nach der er sich sehnt, mit folgenden Worten: Immer wenn mir der Mißmut am Mundwinkel zerrt und nieselnder November in die Seele einzieht, wenn ich unwillkürlich vor den Fernstern der Sargtischler stehenbleibe und hinter jedem Leichenzug hertrotte, der mir in die Quere kommt; nun gar, wenn die Grillen überhandnehmen, daß ich mir Gewalt antun muß, um nicht auf die Straße hinunterzulaufen und jedem, der mir begegnet, kalten Blutes den Hut herunterzuschlagen – dann ist’s für mich allerhöchste Zeit, zur See zu gehen. (....)"

Inhalt

I. Das Bittere - Was der Mensch des Ressentiments erlebt

  • 1. Allgemeine Bitterkeit 13
  • 2. Das Ressentiment bei Individuum und Gesellschaft. Das Grollen des Wiederkäuens 16
  • 3. Definition und Äußerungsformen des Ressentiments 18
  • 4. Trägheit des Ressentiments und Ressentiment-Fetisch 23
  • 5. Ressentiment und Egalitarismus. Das Ende des Unterscheidungsvermögens 28
  • 6. Die Melancholie im Überfluss 34
  • 7. Was Scheler über Care sagen würde 39
  • 8. Ist das Ressentiment weiblich? 41
  • 9. Das falsche Selbst 43
  • 10. Die Membran 45
  • 11. Die notwendige Konfrontation 48
  • 12. Geschmack an der Bitterkeit 50
  • 13. Melancholische Literatur 52
  • 14. Die Menge der Missratenen 54
  • 15. Die Fähigkeit, zu vergessen 60
  • 16. Auf die Welt hoffen 64
  • 17. Die Tragik des Thiasos 69
  • 18. Die große Gesundheit: Das Offene wählen; das Numinose wählen 72
  • 19. Weiterhin über die Welt staunen 78
  • 20. Glück und Ressentiment 82
  • 21. Die Starken gegen die Schwachen verteidigen 85
  • 22. Pathologien des Ressentiments 88
  • 23. Humanismus oder Misanthropie? 95
  • 24. Das Ressentiment mit der Analyse bekämpfen 97
  • 25. Der Zeit wieder einen Wert geben 100
  • 26. In der Gegenübertragung und der analytischen Kur 102
  • 27. Zu den Quellen des Ressentiments, mit Montaigne 112

II. Faschismus - Zu den psychischen Quellen des kollektiven Ressentiments

  • 1. Exil, Faschismus und Ressentiment. Adorno I 117
  • 2. Kapitalismus, Verdinglichung und Ressentiment. - Adorno II 127
  • 3. Erkenntnis und Ressentiment 132
  • 4. Konstellare Schrift und Stumpfsinn. Adorno III 138
  • 5. Die Unaufrichtigkeit der einen, das Bescheidwissen der anderen 144
  • 6. Der Faschismus als emotionale Pest. Wilhelm Reich I 147
  • 7. Der Faschismus und ich. Wilhelm Reich II 152
  • 8. Historische Lektüren und zeitgenössische Psychen 169
  • 9. Das Leben als Erschaffung: Das Offene ist die Rettung 180
  • 10. Die Hydra 183

III. Das Meer - Eine offene Welt für den Menschen

  • 1. Die Deklosion nach Fanon 195
  • 2. Das Universale mit der Gefahr des Unpersönlichen 205
  • 3. Den Kolonisierten behandeln 215
  • 4. Die Dekolonisierung des Seins 222
  • 5. Die Kreativität wiederherstellen 228
  • 6. Die Therapie der Dekolonisierung 234
  • 7. Ein Umweg über Cioran 241
  • 8. Fanon, der Therapeut 247
  • 9. Anerkennung der Singularität 253
  • 10. Individuelle Gesundheit und Demokratie 261
  • 11. Der Angriff auf die Sprache 266
  • 12. Rekurse auf den Hass 272
  • 13. Der mundus inversus: Konspirationismus und Ressentiment 276
  • 14. Zur Ich-Erweiterung I 283
  • 15. Was die Trennung bedeutet 286
  • 16. Zur Ich-Erweiterung II: Demokratie, ein offenes Wertsystem 290
  • 17. Der Mensch des Untergrunds: Dem Abgrund widerstehen 295

Namenregister 313

Pressestimmen

»Fleury ist als Philosophin und Psychoanalytikerin zurückhaltend damit, konkrete Bezüge zur politischen und gesellschaftlichen Realität explizit herzustellen. Der Begriff des Ressentiments ist jedoch so offensichtlich ein Generalschlüssel zu vielen Phänomenen der Gegenwart, dass bei der Lektüre sofort einige Schlösser aufspringen.«

Leander Steinkopf, in: DIE WELT

»Besonders toxisch in einem umfassenderen Sinne sind unsere Ressentiments. Da wir diesbezüglich in Blütezeiten leben, in denen sich identitärer Abgrenzungsfuror mit identitätspolitischer Opferkonkurrenz, Hate Speech oder Cancel Culture vermischen, ist das Buch Hier liegt Bitterkeit begraben von Cynthia Fleury das Buch der Stunde.«

Katharina Teutsch, in:DIE ZEIT

»Fleury hat ein hochkomplexes Buch geschrieben, verschwenderisch ausgestattet mit Zitaten, Anspielungen und Assoziationen, es ist eine Achterbahnfahrt durch die Geschichte der Moderne. Und es trifft mitten hinein in das drängendste Problem unserer Zeit: die wachsende Macht des sozialen Ressentiments.«

Nils Minkmar, in der: Süddeutsche Zeitung SZ

Die Autorin

Cynthia Fleury, geboren 1974, ist Philosophin und Psychoanalytikerin. Sie ist Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris und Professorin für Philosophie am Hospital Sainte-Anne der GHU Paris für Psychiatrie und Neurowissenschaften. Fleury ist Mitglied der französischen Nationalen Beratungskommission für Ethikfragen.

Kaufoption

28,00 €