Details

Herausgeber Capote, Truman; Kirschner, Halina (Hg.)
Verlag Büchergilde Gutenberg
Auflage/ Erscheinungsjahr 2011
Format 26 × 15,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Leinen
Seiten/ Spieldauer 189 Seiten
SFB Artikelnummer (SFB_ID) 9783763264193

Aus dem Inhalt

Wann war es, daß ich zum ersten Mal von der Grasharfe hörte? Lange vor jenem Herbst, als wir im Paternosterbaum lebten, also in einem früheren Herbst, und es war natürlich Dolly, die mir davon erzählte; niemand sonst hätte diesen Namen finden können: die Grasharfe.
Wenn Sie beim Verlassen der Stadt die Straße zur Kirche nehmen, kommen Sie bald an einem auffallenden Hügel mit knochenbleichen Grabsteinen und braun verbrannten Blumen vorbei – das ist der Friedhof der Baptisten. Unsere Leute, die Talbos, die Fenwicks, sind dort begraben. Meine Mutter liegt neben meinem Vater, und die Gräber von Verwandten, zwanzig oder mehr, umgeben sie wie die eingesunkenen Wurzeln eines steinernen Baumes. Unterhalb des Hügels ist ein Feld von hohem Präriegras, dessen Farbe mit den Jahreszeiten wechselt. Sie müssen einmal im Herbst, im späten September hinausgehen, wenn es sich rötet wie die untergehende Sonne, wenn Scharlachschatten wie ein Glutschein darüberhuschen und die Herbstwinde seufzend aus seinen dürren Halmen Menschentöne locken – eine Harfe aus Stimmen.

Jenseits des Feldes beginnt die Düsternis der Flußwälder. Es muß an solch einem Septembertag gewesen sein, als wir in den Wäldern Wurzeln sammelten, daß Dolly sagte: »Hörst du? Das ist die Grasharfe, die immer eine Geschichte erzählt – sie weiß die Geschichten aller Leute dort vom Hügel, aller, die jemals lebten, und wenn wir tot sind, wird sie auch von uns erzählen.«

Nach dem Tod meiner Mutter brachte mich mein Vater, ein Handelsvertreter, bei seinen Kusinen unter, Verena und Dolly Talbo, zwei unverheirateten Schwestern. Vorher war mir nicht erlaubt gewesen, ihr Haus zu betreten. Aus Gründen, die nie ganz deutlich wurden, sprachen Verena und mein Vater nicht miteinander. Möglicherweise hatte Papa einmal Geld von Verena leihen wollen, und sie hatte das abgelehnt; oder vielleicht hatte sie ihm welches geliehen, und er zahlte es nie zurück. Sicherlich ging es um Geld, denn nichts anderes wäre ihnen so wichtig gewesen. Das galt vor allem für Verena, die die reichste Person in der Stadt war. Der Drugstore, das Bekleidungsgeschäft, eine Tankstelle, ein Gemischtwarenladen, ein Bürohaus, das alles gehörte ihr, und in den Jahren des Geldverdienens war sie nicht gerade umgänglicher geworden.
Jedenfalls, Papa sagte, er würde ihr Haus nicht betreten. Er erzählte ganz schreckliche Dinge über die Damen Talbo. Eine der von ihm verbreiteten Geschichten, die von Verenas angeblicher Morphiumsucht, verstummte niemals, und der Hohn, den er über Miß Dolly Talbo ausgoß, war selbst meiner Mutter zuviel – sie meinte, er solle sich schämen, einen so sanften und harmlosen Menschen derart zu verspotten.
Ich glaube, sie liebten sich sehr, meine Mutter und mein Vater. Jedesmal, wenn er losfuhr, um seine Kühlschränke zu verkaufen, brach sie in Tränen aus. Er heiratete sie, als sie sechzehn war. Sie wurde nicht einmal dreißig. An dem Nachmittag, als sie starb, riß sich Papa alle Kleider vom Leib und rannte nackt in den Hof, laut ihren Namen schreiend.

Es war der Tag nach dem Begräbnis, als Verena zu uns kam. Ich erinnere mich an das Entsetzen, mit dem ich sie den Weg heraufkommen sah, dünn wie ein Stock, eine recht gutaussehende Frau mit kurzgeschnittenem, graumeliertem Haar, schwarzen, männlich wirkenden Augenbrauen und einem kleinen Muttermal auf der Wange. Sie öffnete die Haustür und kam hereinmarschiert. Seit dem Begräbnis hatte Papa Dinge zerschlagen, nicht aus Wut, sondern ruhig und gründlich. Er schlenderte beispielsweise in das Wohnzimmer, nahm eine Porzellanfigur in die Hand, sann eine Zeitlang über sie nach und warf sie dann gegen die Wand. Fußboden und Treppe waren übersät mit Glassplittern und verstreuten Silbergegenständen. Ein zerfetztes Nachthemd meiner Mutter hing über dem Geländer.
Verenas Blick glitt über das Trümmerfeld. »Eugene, ich muß mit dir sprechen«, sagte sie in ihrer festen, kalt prononcierten Stimme, und Papa antwortete: »Ja, setz dich, Verena. Ich wußte, daß du kommen würdest.«
Am gleichen Nachmittag kam Dollys Freundin Catherine Creek herüber und packte meine Kleider, und Papa fuhr mich zu dem eindrucksvollen, beschatteten Haus in der Talbo Lane. Als ich aus dem Wagen stieg, wollte er mich an sich drücken, aber ich hatte Angst vor ihm und wand mich aus seinen Armen. Jetzt tut es mir leid, daß wir uns nicht umarmten. Denn ein paar Tage später kam sein Wagen auf dem Weg hinauf nach Mobile ins Schleudern und stürzte zwanzig Meter tief ins Meer. Als ich ihn wiedersah, lagen Silberdollars auf seinen Augenlidern.
Bis dahin hatte mich – außer der Bemerkung, ich sei klein für mein Alter, ein Zwerg – nie jemand besonders beachtet; aber jetzt zeigten die Leute auf mich und sagten: »Ist das nicht traurig? Der arme kleine Collin Fenwick!« Ich versuchte, bedauernswert auszusehen, denn ich wußte, das mochten die Leute. Wohl jeder in der Stadt spendierte mir einmal Limonade oder eine Schachtel Popcorn, und in der Schule bekam ich zum ersten Mal gute Noten. Es dauerte also eine ganze Weile, bis mein Leben wieder in ruhigeren Bahnen verlief und ich Notiz von Dolly Talbo nahm. Und dann war ich sofort verliebt.

Lieferbarkeitshinweis

Bei der SFB als Vorzugsausgabe mit einer vierfarbigen, nummerierten und signierten Original-Serigrafie in einer Auflage von 100 Exemplaren verügbar.

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