Details

Autor von Redecker, Eva
Verlag S. FISCHER
Auflage/ Erscheinungsjahr 24.05.2023
Format 20.9 × 13 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 160 Seiten
Gewicht 261
ISBN 9783103974997

Zu diesem Buch

Selten wurde über ´Freiheit` so intensiv diskutiert wie in den gerade erlebten Pandemiezeiten: Bewegungsfreiheit, die Freiheit, sich mit Familie und Freunden zu treffen. zu reisen, sich uneingeschränkt zu bewegen, Menschen dort zu treffen, wo man möchte.

Die Autorin, ausgebildete Philosophin, hinterfragt in ihrem Buch unseren nicht selten vulgär verkützten Freiheitsbegriff, den sie in seiner Engführung als Karikatur beschreibt, wenn dieser hauptsächlich auf die exzessiv betriebene räumliche Ausdrehnung und Ausbreitung des individuellen Verkehrsraumes abhebt. Wie wenig reif und zukunftsbewährt ein derart stark auf Bewegungs-Freiheit und grenzenlose Mobilität hin ausgelegter und enggeführter (westlicher) Freiheitsbegriff vor dem Befund sein mag, daß lebenswerte und die Existenz sichernde Wohn- und Lebensräume für die Masse der Menschheit immer seltener eine sichere und beständige Realität sind und diesen Menschen oft nur noch die ´Freiheit` der Fluch bleibt, ist also die große Frage.

Eva von Redecker denkt Freiheit neu, nämlich im Sinne eines Privilegs, als Teilnehmer einer Minderheit von WeltbewohnerInenn an einem sicheren und stabilen Ort unbesorgt leben, bleiben und sich relatv frei entwickeln zu dürfen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet entfaltet sich die Idee einer "Bleibefreiheit" als ein in Zeit und Raum eingebettetes Agens, von dem aus es erst Sinn machen kann, z.B. auf Schusters Rappen die Welt zu erkunden, Erfahrungen zu sammeln, mit anderen Menschen, Kulturen, Religionen und Ansichten in den Austausch zu treten und eines Tages reich an Lebens- und Welterfahrung an seine Basis zurückzukehren.

Borniert und rambohaft mit die Selbstentfremdung beflügelnden technischen Mitteln als westliche Wohlstandsmenschen massenhaft über die ganze Erdkugel herzufallen, um Sightseeing, Deals oder Shopping zu betreiben oder in Ressorts unter Seinesgleichen sich alkoholisiert anzuöden, wird hier als das benannt, was es ist: Eine pervertiert-vulgäre Vorstellung von "Freiheit", die indes nichts anders als Äußerungsform von Egoismus und Dummheit auf Kosten anderer und zum Nachteil der Heimgesuchten ist.

Aus der Einleitung

(...) "In der ersten Pandemiewelle hätte ich eigentlich in die USA reisen sollen, um einige Vorträge zu halten. Einladungen, über die ich mich ursprünglich sehr gefreut hatte. Aber als klar war, dass ich nicht würde fahren können, war mir das merkwürdig gleichgültig. Mehr noch: Ich war richtiggehend erleichtert. Plötzlich kam es mir vor wie ein Glücksfall, als sei ein Frevel gerade noch verhindert worden. Was hatte ich mir eigentlich eingebildet, dieser Tage in einem Flugzeug zu sitzen und C02 in die Atmosphäre zu pumpen? Ein Vortragsmanuskript über Autoritarismus auf den Knien, aber in meinen eigenen Selbstverständlichkeiten gefangen? Das Freiheitsempfinden an dem Tag kam allerdings nicht vom erleichterten Gewissen. Ich hatte ja auch nichts richtig gemacht. Es war einfach ein verblüffender Genuss von Offenheit — keine Termine, keine Fristen heute — und dazu das Geschenk einer ganz besonderen Gunst. An genau dem Tag kamen die Schwalben wieder. Und ich war da.

Bewegungsfreiheit

»Bleibefreiheit« habe ich das dann probeweise genannt. Die Freiheit, zu bleiben. Das ist natürlich paradox. Wieso sollte man angesichts eines vereitelten Flugs von Freiheit sprechen? Zumal ich ja von Anfang an nicht hätte Zusagen müssen. Und nun, da die Reise geplant war, wurde ich unfreiwillig von ihr abgehalten. Bleibezwang kann keine Freiheit sein. Und auch abgesehen von meiner konkreten Situation widerstrebt das Bleiben der Assoziation mit Freiheit.

Schließlich ist »Freiheit« in der westlichen Tradition untrennbar mit Bewegungsfreiheit verknüpft. Thomas Hobbes, der mit seiner Schrift Leviathan Mitte des 17. Jahrhunderts die moderne politische Philosophie begründete, erklärte etwa: »Freiheit bedeutet genau genommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand äußere Bewegungshindernisse verstehe.« (1) Gut einhundert Jahre später hieß es beim britischen Rechtsgelehrten William Blackstone weiterhin, dass individuelle Freiheit in »Lokomotion«,(2) also Fortbewegungsfähigkeit bestünde. Die mechanische Vorstellung von Freiheit als ungehinderter Bewegung scheint vielleicht etwas simpel, aber sie unterliegt auch komplexeren Konzeptionen. Wenn Freiheit vom autonomen Willen abgeleitet wird, besteht sie im Entscheidungsspielraum, innerhalb dessen der Wille sich bewegt. Liberale Freiheit ist stets auf ein räumliches Imaginäres angewiesen, sie ist geradezu eine geometrische Figur. Rechtlich abgezirkelte Sphären, innerhalb derer uns nichts einschränken soll als dieselben Rechte anderer, geben ihr den nötigen Rahmen. Und schon bevor Freiheit als Menschenrecht revolutionär verbrieft wurde, ließ sie sich als Ortswechsel erfahren: Frei ist, wer aus Ägypten ins Gelobte Land aufbricht. Frei ist die Stadt, in der die Fron aufgehoben, frei sind die Nordstaaten, in denen die Sklaverei verboten ist. Nachdem dann das vermeintlich gleiche Recht auf Freiheit eingeführt wurde, stand und fiel sein Wert mit dem Anspruch auf Freizügigkeit, also dem Recht, seine Heimat zu verlassen, ohne ein Abzugsgeld zu zahlen.

Schließlich war die Reisefreiheit einer der Hebelpunkte, der das Ende des undemokratischen Staatssozialismus einläutete. Und wenn Sie mich nach der größten Ungerechtigkeit der Gegenwart fragten, würde ich vermutlich sagen, dass sie darin besteht, wie die im Laufe der letzten zweihundert Jahre befestigten Nationalstaatsgrenzen die globale Ungleichheit um den Preis Zehntausender Menschenleben zementieren. Das Gefühl von Weite, das einen beim Blick auf Zugvögel überkommt, müsste für Menschen überhaupt noch realisiert werden. Mein deutscher Pass erlaubt mir den visumsfreien Besuch von 191 Ländern, einer Bürgerin in Simbabwe, wo viele Schwalben die andere Jahreshälfte verbringen, steht nicht mal ein Drittel davon offen, schon gar nicht die gen Norden.

So sehr, wie Freiheit und Bewegungsfreiheit Zusammenfällen, ist es auch kein Wunder, dass die pandemiebedingten Reisebeschränkungen von vielen als drastische Freiheitseinbuße empfunden wurden - und das nicht nur, wo sie Menschen tatsächlich in beengten und gewalttätigen Haushalten festhielten. Freiheit ist Bewegungsfreiheit. So gesehen bildet das Bleiben geradezu den Nullpunkt der Freiheit.(...)"

Stimmen zum Buch

"Redecker […] ist eine der interessantesten Denkerinnen ihrer Generation  ...."

in: Der Spiegel

Die Autorin

Eva von Redecker, geboren 1982, ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. »Die ZEIT« und ist regelmäßig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe »Eva and the Apple« aus. Bei S. FISCHER erschien zuletzt ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« (2020) sowie ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe der »Dialektik der Aufklärung«. Aufgewachsen auf einem Biohof, lebt sie heute im ländlichen Brandenburg.

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