Details

Herausgeber Brunner, Markus; Domdey, Anna; Graage, Nicola; Henze, Dustin; König, Julia (Hg.)
Verlag Springer VS
Auflage/ Erscheinungsjahr 27.09.2024
Format 21 × 14.8 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer XIV, 417 Seiten
Abbildungen Mit 3 Abb. in Farbe.
ISBN 9783658432812

Zu diesem Beitrag

Als eine globale Krise hatte die Covid-19-Pandemie nicht nur gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen, sondern löste auch politische und gesellschaftliche Veränderungen aus. Wie reagierten die Menschen hierauf und welche autoritären Dynamiken wurden dabei sichtbar? Aus einer psychoanalytisch-sozialpsychologischen Forschungsperspektive und in Anknüpfung an die Autoritarismusforschung der Kritischen Theorie untersuchen drei empirische Fallstudien - über Videos der Querdenker-Szene, Bundestagsreden der AfD sowie biografische Interviews - unterschiedliche Facetten autoritärer Agitation und Reaktion auf die Pandemie. Die Ergebnisse veranschaulichen, wie die Pandemie als ein Brennglas für gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte wirkt, die sich subjektiv niederschlagen und durch verschwörungsideologische und rechtspopulistische Akteur:innen propagandistisch bedient werden. Die Erkenntnisse verweisen dabei auch auf mögliche Herausforderungen künftiger Krisen.

Aus dem Vorwort

Die Corona-Pandemie hat den persönlichen wie beruflichen Alltag der meisten sehr durcheinander gebracht. An den Universitäten war es vor allem der Umstieg auf digitale Lehrformate, der Lehrende wie Studierende vor Herausforderungen stellte: Videotelefonie-Plattformen als neue Kommunikationsräume, die neues technisches und auch didaktisches Knowhow erforderten, das Homeoffice als zuweilen bequemer und zuweilen anstrengender Arbeitsort, und nicht zuletzt der allein videovermittelte Kontakt zu den Kolleginnen und Studierenden transformierte Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen, teilweise vorübergehend, teilweise nachhaltig.

Als Lehrende versuchten wir beide, die erzwungene Online-Situation produktiv zu nutzen und experimentierten mit unterschiedlichen Formen. Bereits im Sommersemester 2020 führten wir zwei unserer Seminare in Mainz (Julia König) und Wien (Markus Brunner) zusammen und gönnten damit nicht nur uns beiden eine Zusammenarbeit in der Lehre, sondern ermöglichten auch den Studierenden unserer beiden Universitäten einen fächer- sowie landesübergreifenden Austausch über intersektionale Perspektiven auf die Pandemie, die wir zum Gegenstand der Seminarkooperation machen. Zudem erprobten wir die tiefenhermeneutische Interpretationspraxis, der wir uns nun seit vielen Jahren widmen, in einem digitalen Online-Setting: Dabei betrachteten wir die Tiefenhermeneutische Interpretationswerkstatt Online (TIO) explizit als Experiment zur Untersuchung der Frage, inwiefern sich diese Methode, die stark mit intellektuellen, emotionalen und leiblichen Resonanzen in der Interpretationsgruppe arbeitet, wohl online bewähren und eine Gruppe von geographisch weit verstreuten Interpretinnen in disparaten Lebens- und Arbeitssituationen anhand der fokussierten Auseinandersetzung mit einem Gegenstand zusammenführen könnte. Nachdem wir kurzfristig ankündigten, ab Mai 2020 gemeinsam einen regelmäßig stattfindenden überregionalen Workshop zur psychoanalytisch fundierten qualitativen Methode der Tiefenhermeneutik anzubieten, war das Interessen so groß, dass wir uns entschieden, gleich zwei Gruppen zu starten. Aus den bis 2022 regelmäßig stattfindenden digitalen Sitzungen entstand im Laufe der Zeit noch eine parallel laufende, von den Studierenden autonom organisierte Gruppe zur Fortsetzung und Intensivierung der in der gemeinsamen Gruppe begonnenen tiefenhermeneutischen Interpretationsrunden. Die Frage, ob Tiefenhermeneutik auch in einem digitalen Online-Setting funktioniert, kann nunmehr rückblickend aus dem Jahr 2023 zweifelsohne mit >Ja< beantwortet werden. Wenn uns auch auffiel, dass es in den digitalen Online-Gruppen etwas geordneter und affektmodulierter zuging als bei Präsenz-Treffen, haben die gemeinsamen Interpretationen nicht nur geographisch vereinzelten, über drei Länder verteilten Tiefenhermeneut:innen einen kontinuierlichen, intensiven und verlässlichen Arbeitszusammenhang bieten können. Sie haben sich auch als sehr produktiv und erkenntnisreich erwiesen, und sie konnten ungeachtet der Zügelung durch das Setting szenisch die in dem Interpretationsmaterial virulente Konflikthaftigkeit zutage fördern, wovon nicht zuletzt der vorliegende Band zeugt.

Denn in diesen Zusammenhängen kamen wir auch mit den drei Autorinnen der in diesem Band präsentierten Studien zu autoritären Dynamiken in der Pandemie zusammen, die aus Masterarbeitsprojekten hervorgegangen sind. Anna Domdey, Nicola Graage und Dustin Henze brachten in diesen der Pandemie geschuldeten Kontext ihre unterschiedlich gelagerten Studien ein, die alle Reaktionen und Verarbeitungen, aber auch Interventionen in die Krise zum Gegenstand ihrer Analysen gemacht haben. Der Großteil der hier vorgelegten Materialanalysen entstammt dem genannten Interpretationskontext. In den Sitzungen und Interpretationen dieses unterschiedlichen Materials zur aktuellen Krise zeigte sich, wie die unterschiedlichen Ausgangspunkte und Fragerichtungen der Studien sich berührten. Teilweise sprangen in den Interpretationssitzungen Parallelen zu den anderen Projekten ins Auge, teilweise erstaunten Differenzen im Material. Beim Fortschreiten der Masterarbeitsprojekte - die nicht zuletzt in einem engen Austausch der Autorinnen untereinander entstanden - wurde immer deutlicher, wie die Erkenntnisse aus den Einzelprojekten sich gegenseitig ergänzten, durch ihre etwas anderen Perspektiven Winkel ausleuchten und Fragen aufgreifen konnten, die in den anderen Projekten nicht im Fokus standen, und die Idee zu einem gemeinsamen Buch entstand.

Geschrieben wurden die drei Masterarbeiten in je unterschiedlichen Disziplinen, sind aber alle theoretisch wie methodologisch systematisch im Feld der psychoanalytischen Sozialforschung angesiedelt, wie sie ab den 1930er Jahren vor allem von der Kritischen Theorie um Max Horkheimer, Erich Fromm, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse am Institut für Sozialforschung entwickelt worden war (zur Geschichte dieser Tradition vgl. Brunner et al. 2012). Die Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus stand im Zentrum der Forschung dieses Zirkels, erforscht wurden einerseits gesamtgesellschaftliche Transformationen, welche autoritäre Dynamiken beförderten, andererseits - und dies dezidiert mit psychoanalytischen Mitteln - autoritäre Dispositionen, autoritäre Propaganda und autoritäre Massenbewegungen. Mit dem vorliegenden Band versuchen wir heute, an diese Studien anzuknüpfen und gesellschaftstheoretische Überlegungen mit der empirischen Untersuchung unterschiedlicher Phänomene, auf der Seite der politischen Anrufungen wie auf der Seite der Subjekte, zu verbinden und die Erkenntnisse so in eine Konstellation zu bringen, dass sie uns auch über gesamtgesellschaftliche Tendenzen informieren.

Im Zentrum dieses "Bandes stehen diese drei Studien, die von drei weiteren Kapiteln gerahmt werden. Den Anfang macht Markus Brunners theoretische Einleitung, in der er einerseits die sozialpsychologischen Überlegungen und Studien des Instituts für Sozialforschung zu Autoritarismus erstens zum sogenannten »autoritären Charakter, zweitens zur autoritären Propaganda und drittens zu autoritären Massendynamiken darlegt, andererseits Schlaglichter auf aktuelle, an die kritischtheoretische Autoritarismusforschung anschließende Debatten wirft. Dieser theoretischen Einleitung folgt eine kurze Einführung in die tiefenhermeneutische Kulturanalyse, die die methodologische Grundlage der drei Studien bildet. Das ursprünglich von Alfred Lorenzer entwickelte Verfahren stellt eine qualitative Methode der Kulturforschung dar und ermöglicht eine psychoanalytisch informierte Gesellschaftsanalyse, ohne einer naiven Anwendung der Psychoanalyse auf Gesellschaft, Kultur und Politik anheimzufallen.

Nicola Graage beleuchtet in ihrem Beitrag Youtube-Videos von drei »Querdenkern«, die zuweilen schon vorher, aber vor allem im Rahmen der Corona-Pandemie zu Berühmtheit gelangten und deren Videos breit geteilt wurden: Ken Jebsen, Wolfgang Wodarg und Heiko Schrang. Minutiös zeigt die Autorin auf, mit welchen Mitteln die drei Demagogen die Denkfähigkeit des Publikums außer Kraft setzen, über apokalyptische Bilder bestehende innere Gefühls- und Konfliktlagen verstärken und so die Sehnsucht nach Erlösung wecken, die sie ihnen dann über autoritäre Gemeinschaftsbildung, Verschwörungstheorien und Feindbildungsprozesse anbieten. Die tiefenhermeneutischen Analysen bestechen vor allem auch durch ihre konsequente wirkungsanalytische Perspektive: Die sich in der Interpretationsgruppe entfaltenden Dynamiken werden systematisch genutzt, um die Wirkungspotentiale der Videos zu ergründen.

Dustin Henze analysiert in seinem Beitrag drei Bundestagsreden von AfD-Politiker:innen vom Oktober 2020, in denen sich die Redner:innen mit den Maßnahmen gegen die Pandemie auseinandersetzen. Henze legt dar, wie sie die Gefahr, die vom Virus ausgeht, herunterspielen, und wie ihre Reden stattdessen um eine »verbrecherische Regierung< kreisen, die die Demokratie diktatorisch außer Kraft setze; eine Gefahr, der sich nur die AfD entgegenstelle. Die dadurch evozierten Gefühle werden auch hier über Feindbilder kanalisiert. In der virtuosen theoretischen Diskussion reflektiert der Autor vor dem Hintergrund weitgreifender gesellschafts- und demokratietheoretischer Überlegungen auf die spezifische psychosoziale Situation der durch die Reden angerufenen Zuschauerinnen in der Pandemie, die nicht nur eigene Ängste und Ambivalenzen hervorbringt, sondern auch bisherige Umgangsweisen mit gesellschaftlich produzierten Konflikten verunmöglicht.

Anna Domdey wendet sich genau diesem potenziellen Publikum zu und analysiert mittels biographischer Interviews die Gefühlslagen und speziell die autoritären Reaktionsweisen im ersten Jahr der Pandemie. Sie interviewte dazu nicht »Querdenker:innen«, sondern sprach mit Personen in einer Kleinstadt, die für autoritäre Ausdrucksformen in die andere Richtung, nämlich gegen Personen, die sich angeblich nicht an staatlich verordnete Reise- und Ausgangsbeschränkungen hielten, bekannt wurde. Domdey legt anhand ihrer Analysen erstens sehr anschaulich dar, wie das Erleben und der Umgang mit der Pandemie stark von sehr individuellen, aber sozial verorteten biographischen Erfahrungen geprägt ist, wobei die Autorin mit ihrer geschlechtertheoretischen Perspektive den Blick auch auf vergeschlechtlichte Dimension der pandemischen Situation schärft. Zweitens zeigt sie auf, dass autoritäre Krisenverarbeitungsprozesse eben nicht nur bei den »Querdenker:innen« und Kritikerinnen der Regierungsmaßnahmen zu finden sind, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellen.

Markus Brunner; Julia König

Inhalt

Markus Brunner: Zur Sozialpsychologie Des Autoritarismus. Theoretische Einführung

Anna Domdey, Dustin Henze und Nicola Graage: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse

Nicola Graage: Verheißungsvolles Geschwurbel. Eine Tiefenhermeneutische Untersuchuni; der Affektiven Attraktivität von Autoritärer Gemeinschaftsbildung und Verschwörungsdenken zu Zeiten der Corona-Pandemie

Dustin Henze: »Wählen Sie diese Regierung ab, solange Sie noch können« Inszenierung und Wirken der Bundestagsreden der AfD in Bezug auf die COVlD-19-Pandemie

Anna Domdey: »und ansonsten gehen wir vor zum Deich und schießen zwei Hasen. Wir sehen das wirklich sehr entspannt« Autoritäre Verarbeitungsweisen der Corona-Pandemie in der >Mitte< der Gesellschaft

Markus Brunner, Anna Domdey, Nicola Graage, Dustin Henze und Julia König: Autoritäre Dynamiken in der Pandemie. Abschließende Reflexionen und Ausblick

Anhang

Über die Herausgeber

Markus Brunner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Leiter des Studienschwerpunktes „Sozialpsychologie/Klinische Psychologie" an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, Mitherausgeber der Zeitschriften „Freie Assoziation" und „Psychologie und Gesellschaftskritik” sowie der Schriftenreihe „Kritische Sozialpsychologie" beim VS Springer-Verlag, Gründungsmitglied der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie und Gruppenanalytiker (SGAZ). Zahlreiche Schriften zur Psychoanalyse und psychoanalytischen Sozialpsychologie.

Anna Domdey, M.A., studierte Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie und Geschlechterforschung in Göttingen. Sie ist Mitglied in der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie und einer tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe. Ihre Schwerpunkte liegen in historisch-materialistischer Geschlechterforschung, Kritischer Theorie und Antisemitismusforschung. Außerdem interessiert sie sich theoretisch wie praktisch für Geschichtspolitik und arbeitet derzeit in der Gedenkstätte Breitenau.

Nicola Graage, M.A., absolvierte ihren Bachelor in Psychologie an der Universität Potsdam (UP) und ihren Master mit Klinischem Fokus an der International Psychoanalytic University (IPU). Derzeit arbeitet sie mit psychisch erkrankten Erwachsenen im Bereich der Eingliederungshilfe und ist Ausbildungskandidatin am Institut für Psychotherapie Potsdam (TP/AP).

Dustin Henze, M.A., arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien im internationalen Forschungsprojekt „Connecting the Dots: Reconstructing the Social Production of Suspicious Knowledge". Er hat Politikwissenschaft, Geschlechterforschung und Psychologie studiert, ist Mitglied der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie und einer tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich psychoanalytischer Sozialpsychologie und Kritischer Theorie.

Prof.in Dr.in Julia König ist Professorin für Kindheitsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Sexualitätsgeschichte und der Analyse aktueller Konstellationen kindlicher Sexualität, auf Untersuchungen von Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungsdenken, und berühren feministische, (post)koloniale und kindheitstheoretische Fragen. Systematisch nimmt sie dabei neben den genannten vor allem die Perspektive Kritischer Theorie und der Psychoanalyse ein.

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