Details

Autor Depardon, Raymond (Regie)
Verlag Absolut Medien
Auflage/ Erscheinungsjahr 16.11.2018
Format 19 × 13,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung DVD video
Seiten/ Spieldauer 86 Min.
Gewicht 86
SFB Artikelnummer (SFB_ID) 9783848840670

"Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen führt über den Wahnsinnigen."

Michel Foucault

Zu diesem cineastischen Kunststück

Zwölf Tage – das ist die Frist, innerhalb derer in Frankreich ein Psychiatriepatient nach der Zwangseinweisung eine Anhörung vor Gericht bekommen muss, rund 90.000 Menschen durchlaufen im ganzen Land jährlich diese Prozedur.

Für seinen neuen Film bekam der legendäre Regisseur und Fotograf Raymond Depardon als erster Filmemacher überhaupt Zugang zu diesen Verfahren und dokumentierte zehn Fälle in einer Klinik in Lyon. Die Kamera agiert sensibel und wahrhaftig, sie konzentriert sich auf die Patientinnen und Patienten oder nimmt die richterliche Instanz in den Blick. Die Sachlichkeit der Methode ist erhellend und hilft der Empathie des Zuschauers auf die Sprünge: In seltener Klarheit sieht man den großen Schmerz, der allen psychischen Erkrankungen zugrunde liegt. 12 TAGE zeigt Depardon abermals als meisterhaften Beobachter und großen Humanisten des dokumentarischen Kinos.

"Es ist erstaunlich, alle Patienten sagen großartige Sachen. Sie sind wie Poeten in ihrem Bemühen, sich auszudrücken und mit dem, was sie zu sagen haben, ernst genommen zu werden. Was sie sagen, sind echte Wahrheiten."

Raymond Depardon

Regienotiz des Autors

"Durch ein am 27. September 2013 in Kraft getretenes Gesetz müssen alle gegen ihren Willen eingelieferten Patienten in den psychiatrischen Kliniken Frankreichs innerhalb von zwölf Tagen von einem Haftrichter gehört werden. Für die Dreharbeiten zu diesem Film wurde dem Filmteam die Ausnahmegenehmigung erteilt, an diesen Anhörungen teilzunehmen. Um die Anonymität der im Film erscheinenden Personen zu gewährleisten, wurden Namen und Orte geändert.

In der Vergangenheit lag die Entscheidung, einen Menschen gegen ihren oder seinen Willen festzuhalten, alleine bei den Psychiaterinnen und Psychiatern und wurde ohne Einholung einer zweiten Meinung gefällt. Auf diesem Wege wurden Geisteskranke und Wahnsinnige zu Patienten.
Seit 2013, mit der Absicht, einen gesetzlichen Rahmen für diesen Freiheitsentzug zu schaffen, sind Psychiater gesetzlich dazu verpflichtet, alle Entscheidungen im Falle einer Zwangseinweisung innerhalb von zwölf Tagen einem Haftrichter zu überlassen. Wir sind die ersten, die die Umsetzung dieses Gesetzes filmen konnten und das Eindringen der Justiz in die psychiatrischen Institutionen, das bisher nur zum Feld der Psychiatrie gehörte, nun zu einem öffentlichen Diskurs machen können. Dies geht uns alle an, denn es gibt nicht eine Familie oder einen sozialen Kreis, in denen es nicht mindestens eine psychisch anfällige Person gibt.

In Frankreich werden jährlich etwa 92.000 Frauen und Männer gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingeliefert (das sind ca. 250 täglich). Die Kliniken haben ab dem Tag der Einweisung zwölf Tage Zeit, jeden Patienten vor einen Richter zu bringen, der ihr Programm der zwangsweisen Behandlung gutheißt – oder nicht. Zu den zweimal in der Woche anberaumten Anhörungen kommt ein Großteil der Patienten ins Vinatier Hospital in Lyon aus diversen Krankenhausabteilungen sowie aus einer Spezialabteilung für „schwierige“ Patienten, die für unfähig erachtet wurden, ihre eigenen Handlungen einschätzen zu können. Die öffentlichen Anhörungen werden zwischen vier Richtern aufgeteilt, die in einer Runde sitzen. Zwei Frauen und zwei Männer mit deutlich unterschiedlicher Herangehensweise. Um den Patienten die Möglichkeit zu geben, offen über ihren Freiheitsentzug sprechen zu können, ist der zuständige Psychiater nicht anwesend. Zwangseinweisung ist immer ein Leidensweg, für diejenigen, die ihr unterliegen, diejenigen, die sie initiieren und diejenigen, die sie anordnen.

Wir filmten 72 Anhörungen und unsere Anteilnahme wuchs durch den Kontakt mit Patienten in großer Not, denen es trotzdem gelang, mit Würde und Einfühlsamkeit ihre Anliegen zu äußern. Im Grunde sind sie alle Menschen, die leiden. Ihre Worte sind von großem Wert, weder gestört noch wahnsinnig, sondern klar und kraftvoll und mit großer Sorge um ihre eigene Zukunft formuliert. 12 TAGE präsentiert zehn dieser Patienten.

Es befinden sich drei Kameras in dem Verhandlungsraum: eine für den Patienten, eine für den Richter und eine für die Totale. Dieser Ansatz erlaubt es uns, sowohl zum Patienten wie auch zum Richter eine Distanz zu wahren, eine dominante Sichtweise zu vermeiden und dem Zuschauer so zu ermöglichen, sich seine eigene Meinung zu bilden. Zwischen diesen Fragmenten der Anhörungen haben wir die Zeit stillstehen lassen, indem wir innerhalb und außerhalb der Klinikräumlichkeiten gefilmt haben, mit Patienten, die sich frei zwischen den einzelnen Gebäudeflügeln bewegen. Diese Bilder, die ich sanft und sehr genau definiert gestalten wollte, werden von Alexandre Desplats Filmmusik untermalt. Ich fand es großartig, den morgendlichen Nebel und die fahle Wintersonne zu filmen, ich fand es ebenso großartig, in diese heimatliche Gegend zurückzukehren und das Licht meiner Kindheit einzufangen.

12 TAGE erforscht den Ort, an dem sich Psychiatrie und Justiz treffen und schließt nahtlos an unsere vorherigen Dokumentationen an, die ähnliche Themenfelder behandelten: SAN CLEMETE, URGENCES (Psychiatrie), FAITS DIVERS, DÉLITS FLAGRANTS und 10E CHAMBRE – INSTANTS D’AUDIENCE (das Justizsystem). 12 TAGE hat die Absicht, eine neue und universelle Perspektive auf die komplexe Frage der geistigen Gesundheit zu ermöglichen. Wir gingen um vieles reicher aus diesem Film hervor, der es denen, die für eine Zeit weggesperrt sind und ihre Stimme verloren haben, erlaubt, gehört zu werden. Diese verletzlichen Menschen geben Zeugnis ab, nicht nur von ihren eigenen Lebensgeschichten, sondern auch über das politische, gesellschaftliche und moralische Narrativ Frankreichs.

Selbst wenn unsere Filme dazu führen sollten, es anders zu sehen: wir interessieren uns nicht in erster Linie für Institutionen. Was uns antreibt ist unsere Neugierde, unsere Stärke ist unsere Naivität. Wir sind Spezialisten für nichts, wir wollen einfach versuchen, aufmerksam zuzuhören und Momente, Worte, Gefühle wiederzugeben.

Raymond Depardon and Claudine Nougaret, April 2017

Stimmen zu diesem Filmprojekt

“Wenn es die Aufgabe eines Filmemachers ist, immer auch neue, bislang ungesehene Bilder zu machen, dann hat Depardon mit seiner Ausnahme-Drehgenehmigung genau das geschafft. Er besucht eine psychiatrische Anstalt und kommt zurück mit Eindrücken, die es so noch nicht gab. Er führt uns in einen Bereich des Ungesehenen – und zeigt doch, dass dahinter neue Türen und Welten liegen, die uns für immer verschlossen bleiben.”

Süddeutsche Zeitung

“Die Kamera filmt die Gespräche in langen, statischen Einstellungen, es gibt keinen Kommentar, dafür viel Zeit, um die Gesichter, Gesten und Sprechweisen zu studieren: starre Augen, die nie blinzeln, ein Atem, der vor Aufregung schneller geht, verwaschenes Sprechen und rastlose Unruhe. Angst, Aggression und Traurigkeit lassen sich ablesen, großes Leid.”

Der Tagesspiegel

“Dokumentalität des Seelenleidens: Er zeigt Menschen, die auf eine schmerzhafte Weise sie selbst sind.”

Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ

“Es bleibt unzweifelhaft, dass Depardon an den Insassen und ihren Schicksalen gelegen ist. So rigide und strukturell stringent der Film aufgebaut ist, so mitfühlend und geduldig verhält er sich gegenüber seinen Protagonisten. Die statische Kamera bewahrt respektvoll Distanz, die ruhige Montage will nicht vereinfachen. Wie geheimnisvoll sind doch die Verbindung von Film- und Gefühlsbewegung: Gerade weil wir einen sicheren, festen Standpunkt haben, gerade weil die Abläufe so festgefügt sind, können uns die stets unerwartet verlaufenden Geschichten und die Figuren mitreißen.”

Critic.de

“ (...) Vor allem aber gibt der Film der Verrücktheit ihren Raum – und das stets mit Würde und Anstand. Und mit Zeit.”

Freitag

“Nie zuvor hat man solche Bilder aus einer Psychiatrie gesehen, wie Depardon sie in einer Einrichtung in Lyon eingefangen hat. Die meisten Patienten erscheinen zunächst rational, erst nach und nach schälen sich mal mehr, mal weniger krankhafte Züge heraus. Ganz unweigerlich fragt man sich, ob ein Film derlei zeigen darf. Ist es moralisch vertretbar, kranke Menschen in dieser Situation zu filmen? In Depardons Fall lautet die Antwort ganz klar ja, denn sein Blick ist alles andere als voyeuristisch. Er kommentiert nichts und bleibt völlig neutral, agiert dabei aber sehr sensibel und gibt den von der ­Gesellschaft als wahnsinnig Stigmatisierten ­ihre Menschlichkeit zurück. Damit bleibt der französische Filmemacher und Fotograf seinem humanistischen Ansatz treu, der sich durch seine Arbeit zieht.”

Evangelischer Pressedienst - EPD Film

Der Regisseur

Raymond Depardon wurde 1942 geboren. Bis heute hat er bei 24 Langfilmen Regie geführt, über 50 Bücher mit seinen Fotografien wurden veröffentlicht. Depardons Werk ist regelmäßig der Anlass für große Ausstellungen und Filmretrospektiven, von Paris bis Bogota. Als jüngster Sohn einer Bauernfamilie aufgewachsen, begann er mit zwölf Jahren den elterlichen Hof in Gare zu fotografieren. 1958 stellte er erstmals in Paris aus und arbeitete ab diesem Jahr als Fotoreporter für die Agentur Dalmas, bevor er zusammen mit anderen 1966 die Agentur Gamma gründete.

Zwischen 1974 und 1977 berichtete Depardon als Fotograf von wichtigen Ereignissen weltweit, unter anderem von der Geiselnahme der Archäologin Françoise Claustre im Tschad. Während dieser Zeit drehte er auch seinen ersten Dokumentarfilm über den Präsidentschaftswahlkampf 1974. 1979 trat er Magnum Photos bei und berichtete in der Folge von weiteren wichtigen internationalen Ereignissen, zahlreiche Bände mit seinen Werken wurden veröffentlicht. Drei Jahren nach dem Erfolg seines Films REPORTERS (1981) nahm Depardon an dem Fotografieprojekt DATAR teil, einer Erkundung der französischen Landschaft, während er weiter als Filmemacher arbeitete (FAITS DIVERS, URGENCES, LA CAPTIVE DU DÉSERT). 1991 wurde ihm der Grand Prix National de la Photographie verliehen, im selben Jahr gründete er mit Claudine Nougaret die Produktionsfirma Palmeraie et désert. Vier Jahre später gewann er den französischen Filmpreis César für DÉLITS FLAGRANTS in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“.

Depardon begann dann eine groß angelegte fotografische und filmische Untersuchung des ländlichen Frankreichs. 2008 wurde ihm für LA VIE MODERNE der Louis Delluc Prize verliehen, seine Installation „Donner la Parole“ wurde in der Fondation Cartier präsentiert. 2011 zeigte er die in vierjähriger Arbeit entstandene Ausstellung „La France de Raymond Depardon“ in der Bibliotheque Nationale de France – mit riesigem Erfolg.

2012, im Jahre der Veröffentlichung seines Films JOURNAL DE FRANCE, entstanden in Co-Regie mit Claudine Nougaret, fertigte Depardon das offizielle Portrait von Präsident François Hollande an. 2013 zeigte die Cinemathèque française in Paris eine vollständige Retrospektive aller Depardon-Filme. Zur selben Zeit präsentierte Depardon die Ausstellung „Un Moment Si Doux“ im Grand Palais, die ihren großen Erfolg im MUCEM Marseille fortsetzen konnte.

2016, in Folge der Terroranschläge in Frankreich, erschien der Film LES HABITANTS (FRANCE), der den Meinungen von Französinnen und Franzosen eine Stimme verlieh. Im selben Jahr wurde „La France de Raymond Depardon“ im französischen Kulturministerium in Lima (Peru) gezeigt. Bei den Filmfestspielen von Cannes 2016 wurde FAITS DIVERS in der Sektion Cannes Classics aufgeführt.

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