Details

Autor Schauer, Alexandra
Verlag Suhrkamp
Auflage/ Erscheinungsjahr Originalausgab, 16.01.2023
Format 17,8 × 10,8 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 704 Seiten
Abbildungen Mit zahlreichen Abb.
Gewicht 402
Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft - stw, Band 2373
ISBN 9783518299739

"Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur
Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle
Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine
Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden,
damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder
minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthal-
ten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das
aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis
ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photo-
graphiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild."

Siegfried Kracauer, Die Angestellten

Zu dieser Arbeit

»Die Menschen können sich heute eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen«, lautet ein oft zitierter Befund. Alexandra Schauer geht dieser spätmodernen Malaise in ihrem überaus materialreichen Buch auf den Grund.

In drei historischen Rekonstruktionsbewegungen zeigt sie am Wandel der Zeiterfahrung, der Öffentlichkeit und der Stadt, wie es kam, dass die Welt als Ort wechselseitiger Verständigung und gemeinsamen Handelns an Bedeutung und die für die politische Moderne einst so zentrale Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft an Strahlkraft eingebüßt hat. Das hat nach der begründeten Ansicht der Autorin schwerwiegende Konsequenzen für das vergesellschaftete Individuum der Gegenwart, das sich in der von ihm hervorgebrachten Wirklichkeit nicht mehr aus- und wiedererkennt.

Aus der Einleitung der Autorin

"Die vorliegende Studie macht sich das Verständnis von Soziologie als Krisenwissenschaft zu eigen. Es geht ihr um eine Analyse der Gegenwartsgesellschaft, die deren innere Zerrissenheit verständlich machen will, indem sie zeigt, dass sich diese Gesellschaft nicht trotz ihrer Antagonismen und Brüche, sondern durch sie erhält. Gegenüber den Gründerfiguren des Faches sieht sich die Analyse jedoch mit einer durchaus veränderten Situation konfrontiert: Die Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleicht nicht mehr derjenigen des 19. Jahrhunderts, aus deren Schoß die Soziologie entsprungen ist.

Damit steht die Untersuchung vor dem Problem, wie sich die neue Situation angemessen fassen lässt. Bisher ist es nicht gelungen, die tiefgreifenden Wandlungsprozesse, die sich auf dem Weg in ein neues Jahrtausend ereignet haben, auf einen Begriff zu bringen, obwohl die zeitdiagnostisch ausgerichtete Gesellschaftstheorie ein ganzes Bündel an Bezeichnungen hervorgebracht hat: Neben ›Spätmoderne‹ ist von ›zweiter‹, von ›flüchtiger‹, von ›erweiterter liberaler‹, von ›reflexiver‹ und von ›regressiver Moderne‹ die Rede. Hinzu kommen die Gegenwartsdiagnosen, die sich statt auf eine Epochenbezeichnung auf eine als zentral wahrgenommene Strukturveränderung beziehen: Nach diesen leben wir in der ›Gesellschaft des Spektakels‹ oder ›des Risikos‹, ›des Erlebnisses‹ oder ›der Angst‹, ›der Singularitäten‹ oder ›des Abstiegs‹.

Ziel der folgenden Ausführungen ist, ein neues Licht auf diese Zeitdiagnosen zu werfen. Dafür wird am Weltverhältnis der Gegenwart angesetzt. Gezeigt werden soll, dass sich der Mensch heute mit einem fundamentalen Wandel seiner Weltbezüge konfrontiert sieht, der sich als Verlust von Welt verstehen lässt. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung mit zwei Seiten: Einerseits entfremdet sich der Mensch von der Welt, die nicht mehr als Ort kollektiver Selbstverständigung und politischer Gesellschaftsgestaltung angeeignet wird. Andererseits entfremdet er sich von sich selbst, weil er nicht versteht, wie sein eigenes Leben mit der Gesellschaft, die ihn umgibt, im Zusammenhang steht. Mensch ohne Welt soll heißen: In der Gegenwart geht das Verständnis dafür verloren, wie das Leben des Einzelnen mit dem Leben der Anderen durch ein Beziehungsgeflecht verbunden ist, das durch gemeinsames Handeln gestaltet werden kann. In der Folge entsteht das, was das Eingangszitat von Günther Anders als Weltlosigkeit beschreibt. Die Menschen leben in einer Welt, die täglich durch ihr eigenes Handeln hervorgebracht wird, ohne dass sie sich in ihr wiedererkennen. (...)"

Inhalt

  • Prolog - Zum Weltbegriff
  • Geschichte, Öffentlichkeit und Stadt als Dimensionen des Weltverhältnisses
  • Vom Nutzen und Nachteil des Epochenbegriffs für die Soziologie
  • Methode und Darstellung
  • Aufbau und Gliederung

Erster Akt: Zeit und Geschichte

I . Zeitstrukturen und Zeitbewusstsein in der Vormoderne

  1. 1. Naturzeit und mythische Zeit
  2. 2. Geschichtsschreibung und Heilsgeschehen
  3. 3. Denaturalisierung und Säkularisierung

II. Uhr und Dampfmaschine oder der Aufbruch in eine neue Zeit

  • 1. Die Entwicklung der Uhr und die »Erfindung des Erfinders«
  • 2. Die Räderuhr mit mechanischer Hemmung und die monastische Zeitordnung
  • 3. Die Stundenuhr und die Zeit der Stadt
  • 4. Die Taschenuhr und die Zeit des Handelskapitalismus
  • 5. Die Stechuhr und die Zeit der Fabrik
  • 6. Die Weltzeit und die Zeit der Eisenbahn

III. Die Entdeckung der Geschichte

  • 1. Verzeitlichung und Beschleunigung
  • 2. Die Geburt der Geschichtsphilosophie aus der Erfahrung der Katastrophe
  • 3. Politik als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung
  • 4. Der Riss, der durch die Zeit geht

IV. Das Veralten der Uhr

  • 1. Das Schwinden öffentlicher Uhren und die Verzeitlichung der Zeit
  • 2. Das Zeitalter globaler Gleichzeitigkeit und das neue Zeit-Raum-Regime
  • 3. Von der Armbanduhr zur Quarzuhr. Zeit im flexiblen Kapitalismus
  • 4. Die Digitaluhr und das postindustrielle Zeitregime

V. Das Ende der Geschichte

  • 1. Linearer Fortschritt oder ewige Wiederkehr?
  • 2. »Gegenwartsschrumpfung« oder »breite Gegenwart«
  • 3. Vom Fortschritt zum Risiko
  • 4. Nostalgie oder die Umwendung des historischen Blicks

Zweiter Akt: Öffentlichkeit

VI. Die Entstehung des privaten Weltverhältnisses

  • 1. Ein kurzer Abriss des Verhältnisses von öffentlich und privat bis zur Neuzeit
  • 2. Die Aufwertung der Privatsphäre im Zuge ihrer Verdopplung: Haus und Markt
  • 3. Die Widersprüche der modernen Privatsphäre:

VII. Die Geburt der Öffentlichkeit aus der Erfahrung der Privatheit

  • 1. »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«
  • 2. Die literarische Öffentlichkeit zwischen Erfahrungsraum und Allgemeinheitsanspruch
  • 3. Politische Öffentlichkeit und Gesellschaftsvertrag

VIII. Von den Widersprüchen der Öffentlichkeit

  • 1. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Die Arbeiterbewegung als Gegenöffentlichkeit
  • 2. Kämpfe um den Bürgerstatus und sozialer Gesellschaftsvertrag
  • 3. Bürgerrechte und die »Dialektik der Aufklärung«

IX. Das entgrenzte Selbst

  • 1. »Geistige Obdachlosigkeit« als Ursprung der Mitte
  • 2. »Der neue Geist des Kapitalismus« und der Strukturwandel des Privaten
  • 3. Zwischen Erschöpfung und Wut. Scheitern im Zeitalter »organisierter Selbstverwirklichung«

X. Privatisierung von Ambivalenz und postpolitische Öffentlichkeit

  • 1. Von der Verallgemeinerung der Kultur zum »Kampf der Kulturen«
  • 2. Spätmoderner Gesellschaftsvertrag und Privatisierung von Ambivalenz
  • 3. Technokratischer Staat und postpolitische Öffentlichkeit
  • 4. Autoritärer Kapitalismus und die »Verwilderung des sozialen Konflikts«

Dritter Akt: Stadt

XI. Die Revolution der Städte als Ouvertüre der Moderne

  • 1. Die Besonderheit der okzidentalen Stadtentwicklung
  • 2. »Stadtluft macht frei«. Von der Durchbrechung des Herrenrechts im Mittelalter
  • 3. Humanismus und Antihumanismus. Die Grenzen der Emanzipation
  • 4. Exkurs: Bürgerliche Emanzipation und moderner Antisemitismus

XII. Industrialisierung oder die Revolution in den Städten

  • 1. Das Jahrhundert der großen Transformationen
  • 2. Fortschrittsoptimismus und soziale Frage. Stadtentwicklung in der Ära des liberalen Gesellschaftsvertrages
  • 3. Haussmannisierung und Great Stink. Von der Erfindung der modernen Stadtplanung zum Munizipalsozialismus
  • 4. Städtische Wege in die organisierte Moderne

XIII. Die Stadt als Laboratorium der spätmodernen Gesellschaft

  • 1. Städtische Spuren des gesellschaftlichen Wandels
  • 2. Von der Alten in die Neue Welt. Der Aufstieg der postindustriellen Stadt
  • 3. Der Abschied vom Fortschritt. Die postindustrielle Stadt zwischen Wachstum und Schrumpfung
  • 4. Die Rückkehr der sozialen Frage und die Gewalt des strafenden Staates

Epilog. »Etwas fehlt ...« - Was bisher geschah - Spätmoderner Weltverlust als Dreifachkrise

Danksagung / Literaturverzeichnis / Abbildungsverzeichnis

Pressestimmen

»Alexandra Schauers beeindruckende ›Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung‹ ist zugleich ein Beitrag zur Urgeschichte der Moderne.«

in: Jungle World 22.02.2023

»Eine wichtige und wertvolle Analyse unserer Gegenwart.«

auf: Deutschlandfunk 22.02.2023

Die Autorin

Alexandra Schauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Für Mensch ohne Welt wurde sie mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie dem Wilhelm-Liebknecht-Preis der Stadt Gießen ausgezeichnet.

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