Details
Autor | Maciejewski, Franz |
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Verlag | Passagen |
Auflage/ Erscheinungsjahr | 1. Aufl. 2002 |
Format | 23,5 × 15,5 cm |
Einbandart/ Medium/ Ausstattung | Paperback |
Seiten/ Spieldauer | 400 Seiten |
Gewicht | 752 |
Reihe | Passagen Philosophie |
ISBN | 9783851655551 |
Zu diesem Buch
1977 wurde Anna Freud von der Hebräischen Universität in Jerusalem eingeladen, einen Lehrstuhl einzuweihen, der den Namen ihres Vaters tragen sollte. Da sie verhindert war, schickte sie eine geschriebene Ansprache. In diesem Dokument erklärt Anna Freud, dass die oft zu vernehmende Bezichtigung, nach der die Psychoanalyse eine „jüdische Wissenschaft“ sei, „unter den gegebenen Umständen als Ehrentitel dienen“ könne. Mit der Frage nach den jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse betritt man nach wie vor ein unwegsames Gelände. Buchstäblich seit ihren Anfängen wird der kulturelle Raum, den die Psychoanalyse der abendländischen Zivilisation als Ort der Selbsterkenntnis des Einzelnen wie auch der Gesellschaft insgesamt geöffnet hat, durch eine „(un-)heimliche Verwerfung“ gespalten, „eine Verwerfung, die man mit Freud auf das Problem des Jüdisch-Seins in einer vehement antisemitischen Welt oder allgemeiner auf das unterirdische Aneinanderreiben der beiden Kulturen – der jüdischen und der christlichen – hat zurückführen wollen“, wie Franz Maciejewski in der Einleitung seiner Untersuchung zur Interdependenz von „Psychoanalytische[m] Archiv und jüdische[m] Gedächtnis“ mit einigem Recht hervorhebt.
In der Nachgeschichte der Shoah war die Frage, ob die Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft“ zu klassifizieren sei oder nicht, zu einem „Anathema“ geworden. Vor allem ihre besondere Befähigung, das Durcharbeiten der traumatischen Erfahrungen der Shoah anzuleiten, verlieh der Psychoanalyse – nolens volens – nach 1945 den Status einer aufgeklärten und universellen Wissenschaft, deren genuin jüdische Inspiration vergessen schien. Wirft man jedoch einen Blick hinter die Grenzen Europas, so stellt man fest, dass der Streit um die jüdischen Anteile an der Psychoanalyse bei weitem nicht erledigt ist. So versuchen zahlreiche Publikationen vorwiegend jüdisch-amerikanischer Autoren (u. a. Peter Gay, Emanuel Rice, Harold Bloom), die Psychoanalyse mit dem Judentum in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen (mit dem Talmud, der Kabbala, dem Chassidismus, dem Zionismus) zu identifizieren und für Freud einen Platz im Pantheon des jüdischen Denkens zu reklamieren. Der intellektuelle Kopf dieser Gruppe, der Historiker Yosef H. Yerushalmi, hat in einer zweifelsohne brillanten Analyse von Freuds Spätschrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ die prägnante Formel „Psychoanalyse sei gottloses Judentum“ gefunden.
Mit anderen Worten: Die Psychoanalyse habe als eine späte, vielleicht auch als letzte Ausprägung des „Judaismus“ zu gelten, und Freud selber habe dies geglaubt, ohne freilich den Mut aufzubringen es zu bekennen. In enger Diskussion mit dem großen amerikanischen Historiker des Judentums spitzt Jacques Derrida diese Frage in «Mal d’archive» noch einmal zu: Die widersprüchliche Einheit des Archivs, Archivgut und Archivübel zu sein, zu bewahren und zu vernichten, erzeugt in der Wendung aufs Subjekt eine ebenso widersprüchliche Gefühlslage – am Archiv zu leiden und nach dem Archiv leidenschaftlich zu verlangen. Dem Wunsch nach Gedächtnis entspricht auf der anderen Seite ein in den Anfängen zu beobachtendes Weh des Gedächtnismachens. Mit Derrida argumentiert Franz Maciejewski, das „Familiengeheimnis von Psychoanalyse und Judaismus“ könne erst dann gelüftet werden, wenn wir des „einzigartigen und unvordenklichen Archivs der Beschneidung“ eingedenk seien, das sich im Zustand des Vergessenseins befindet. Einzigartig ist dieses Archiv, weil sich nur im Judentum die Form einer Einschreibung auf den eigenen Körper als selbstständiges Archiv gegenüber der Schrift als der jüngeren Spur von Einschreibung und Archivierung erhalten hat. Unvordenklich ist das Archiv, weil es sich geschichtlicher Bestimmung und Formierung entzieht. Der Name des Archivs kommt der Beschneidung schließlich deswegen zu, weil es sich bei der Markierung der Haut um ein unauslöschliches Merkzeichen handelt, also der Form nach um eine kulturelle Mnemotechnik und dem Ergebnis nach um ein dauerpräsentes Körpergedächtnis. Die Circumcision liegt nun aber beiden Schriftgedächtnissen (jüdischem Denken und Psychoanalyse), so die Argumentation Maciejewskis, als „gemeinsames Körpergedächtnis“ zugrunde. Damit erhebt der Autor die Beschneidung mit dem zugehörigen Signifikanten Penis cisionis zum Zentralmoment jenes „ethnisch Unbewussten“ der jüdischen Kultur, das die psychoanalytische Theoriebildung maßgeblich affiziert hat. Abgesehen von der Debatte um die jüdische Herkunft Freuds, das dominante jüdische Milieu seiner Familie und seines Bekannten- und Freundeskreises, die jüdischen Zusammensetzung der psychoanalytischen Bewegung, den Einfluss der Philippson-Bibel und des kulturellen Bannkreises des Pentateuch bietet erst der Begriff der Beschneidung als Chiffre für den unbewussten Teil des jüdischen Gedächtnisses die Möglichkeit, das Geheimnis, das die Rede von einer jüdischen Wissenschaft umgibt, zu lüften.
Insoweit versteht Maciejewski die Anstrengung, die dem Begriff der Beschneidung gilt, als Teil jener Vorarbeiten, die Yerushalmi zufolge noch geleistet werden mussten, um die Frage, ob die Psychoanalyse genetisch oder strukturell wirklich eine jüdische Wissenschaft ist, einer Antwort näher zu bringen. Denn auch im engeren psychoanalytischen Diskurs ist das Thema „Freud und die Beschneidung“ eher marginalisiert und die Circumcision insgesamt ein „apartes Epiphänomen“ geblieben. Im ersten Teil der Untersuchung gelingt es Maciejewski sehr anschaulich zu zeigen, dass die Tatsache der Beschneidung die Vita Freuds in den fünfzig Jahren vom Zeitpunkt seiner Geburt bis zur endgültigen Etablierung der Psychoanalyse als Wissenschaft wie ein roter Faden durchzieht: angefangen von der eigenen Circumcision, wie sie in der Familienbibel archiviert wurde und von Derrida einer luziden Interpretation unterworfen wurde, über die dreifache Wiederkehr anlässlich der Geburt seiner Söhne bis hin zur geburtstäglichen Anamnesis durch den Vater; von den unbewussten Anfängen einer mit dem Messer des Mohel in den Körper eingeschriebenen Identität über die thematische Präsenz in antisemitischen wie innerjüdischen Diskursen und Texten seiner Zeit bis hin zu einem in den ersten Entwürfen zu Fragen von Sexualanatomie und sexueller Identität sich aussprechenden aber stets fragmentierten Selbstbewusstsein.
„Nachweisbar als geheimes Zentrum der frühen Traumatheorie sowie aufgehoben und entzifferbar im Archiv der Träume stellt die Tatsache der Beschneidung das halb verstellte und halb verstandene Schibboleth der frühen Psychoanalyse dar, das über den Eintritt in die psychoanalytische Forschergemeinschaft miteintscheidet und deren Selbstverständnis und Theoriesprache mitbestimmt.“ Die entscheidende Verdrängung der ethnisch-kulturellen Bedingtheit der symbolischen Verallgemeinerungen vollzieht sich, wie Maciejewski in einem zweiten Schritt zeigt, in den Konstruktionen der Weiblichkeit.
Freud schreibt die „Beunruhigungsqualität des beschnittenen jüdischen Körpers dem Körper der Frau ein, deren Genital jetzt […] als 'verkümmerter Penis' firmiert“. Am Beispiel der Gradiva – Pop-Ikone der psychoanalytischen Zunft – veranschaulicht der Autor, dass die dominante Männerphantasie der Freudschen Psychoanalyse den Körper der Frau nicht nur als Projektionsfläche des Verlustes gebraucht, sondern ebenso virtuos verwendet, um die Überwindung der narzisstischen Kränkung zur Anschauung zu bringen: "Im Bild des 'steil gestellten Fußes der Gradiva' triumphiert der (quasi-monotheistische) Kult um den Fetisch Phallus als des unbeschnittenen Penis." Eine daran anschließende "dichte Beschreibung" (Geertz) von Freuds Schulbeispiel, dem berühmten Fall des "Kleinen Hans", vermag zu zeigen, dass der mörderische Kampf gegen den Vater und das inzestuöse Begehren nach der Mutter, aber auch die ungeheure Schreckwirkung der Kastration nicht primär als Ödipus-Komplex gedeutet, sondern erst aus dem traumatischen Erbe der Beschneidung wirklich verstanden werden können. Freuds ödipaler Musterfall entpuppt sich hier, wie Maciejewski zu Recht hervorhebt, unversehens als "jüdischer Ödipus". Erkennbar werden, wie fragmentarisch auch immer, Teile des jüdischen Fundamentes, auf dem Freud seine Theorie des psychoanalytischen Kernkomplexes errichtet hat. Genau an dieser Stelle liegt aber der entscheidende Punkt: Dass der verdeckte Partikularismus der jüdischen Sozialisation und des über die Beschneidung hergestellten jüdischen Gedächtnisses (des jungen Freud ebenso wie die des kleinen Hans) den universellen Geltungsanspruch der Psychoanalyse gefährden muss, ist Freud jedoch nicht entgangen. Er hat die Problemlage als theoretische Herausforderung verstanden und mit "Totem und Tabu" den - allerdings gescheiterten - Versuch unternommen, die "Anerkennung der Realität der Kastration" von jeder besonderen Ethnogenese abzukoppeln und durch den Rückgriff auf ein allgemeines phylogenetisches Schema zu sichern. Die verpönten jüdischen Realien werden mit aller Macht durch die allgemein gültigen Inkunabeln des ödipalen Dramas zu ersetzen versucht. Das Scheitern dieses Versuches bietet gewissermaßen ex negativo die Möglichkeit, jüdisches Denken und Psychoanalyse - gegen Freuds Absichten - engzuführen. Dieses Ergebnis findet seine überraschende Bestätigung, wenn man sich den frühen ethnopsychoanalytischen Schriften der jungen Psychoanalytiker des Wiener Kreises zuwendet, die zu dem Ergebnis kommen, dass sich in den Mosesagen und der mosaischen Gesetzgebung, in den Bildern von der Bindung Isaaks oder dem Kampf Jakobs mit dem Engel, im Gebrauch des Schofar oder im Vollzug des Kolnidre eine eigensinnige, ödipale Grundstruktur aufzeigen lässt. Das verführt Maciejewski zu der Annahme, im latenten Sinngehalt von "Totem und Tabu" (dem Grundtext all dieser Debatten) gehe es "nicht um den Gründungsakt der menschlichen Kultur überhaupt, sondern in verstellter Form um die Anfänge jüdischer Ethnogenese und damit um die Grundlegung der Kultur des Judentums". Aus diesem Grund unternimmt Freud in seinem letzten Werk "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" den riskanten Versuch, die phylogenetische, in "Totem und Tabu" entwickelte Grundschrift auf die Ethnogenese des Judentums zu übertragen. Mit der von Freud vorgenommenen "Umbuchung" des jüdischen kulturellen Gedächtnisses von "Moses und Monotheismus" auf das Konto Ägyptens (die Platzierung in der monotheistischen Epoche Echnatons) wird "die Wiedereinsetzung des Urvaters in seine historischen Rechte" zu einer nicht-jüdischen Angelegenheit erklärt. Maciejewski kann zeigen, dass Freud die Geschichte der Durchsetzung der monotheistischen Religion unversehens in der Weise des "traumatischen Ödipus" erzählt und damit eine bemerkenswerte Reihe schafft: Anlässlich des Beginns der jüdischen Ethnogenese (Trauma des Mose-Mordes) erinnert Freud an die Anfänge der Psychoanalyse (Traumatheorie) sowie an die Zeit der eigenen, frühesten Kindheit (Trauma der Beschneidung).
Offenbar also kreisen das Rätsel des Jüdischen an der Psychoanalyse, das Geheimnis des Antisemitismus sowie das in der Mose-Schrift verfolgte Enigma der monotheistischen Religion als "konzentrische Ringe jüdischer (Teil-)Identitäten" um ein und dasselbe Zentrum. Der Logik des psychoanalytischen Diskurses folgend und die eminent jüdische Denkfigur des "Um-eine-Wunde-Kreisens" von Derrida aufgreifend, ist es Maciejewski gelungen, den gesuchten gemeinsamen Brennpunkt in der Tatsache der Beschneidung als dem traumatischen Zentralereignis jüdischer Sozialisation und Ethnogenese zu finden. Der kulturelle Raum, den der Ritus der Circumcision eröffnet und von Generation zu Generation tradiert, ist als Chiffre eines traumatischen Körpergedächtnisses der jüdischen Kultur zu lesen. Seine Spuren sind, so ließe sich der Ansatz Maciejewskis erweitern, nicht nur für die Kulturleistungen von monotheistischer Religion und psychoanalytischer Theorie zu entziffern, sondern mehr noch für die Verdrängungsleistungen des Antisemitismus und die Traumadeutung nach der Shoah in Kunst und Kultur. Letztere bleibt nach wie vor ein beklagenswertes Forschungsdesiderat.
Pressestimmen
»Y. H. Yerushalmi hat das Verhältnis von Psychoanalyse und Judaismus auf die irritierende Formel gebracht: Psychoanalyse sei „gottloses Judentum“. Mit Derrida fragt der Autor nach dem tieferen Sinn dieser Aussage. Sein Argument: Wir vermögen das Familiengeheimnis von Psychoanalyse und Judaismus erst zu lüften, wenn wir des „unvordenklichen Archivs der Beschneidung“ eingedenk sind, das sich im Zustand des Vergessenseins befindet. Die Circumcision liegt beiden Schriftgedächtnissen (Judaismus und Psychoanalyse) als gemeinsames Körpergedächtnis zugrunde. In Frage steht damit beider Genese: Hat das Trauma der Beschneidung die psychoanalytische Theoriebildung irgend affiziert? Ist umgekehrt der jüdische Monotheismus das Ergebnis einer besonderen Sozialisationsweise, die Freud im Namen eines allgemeinen Komplexes (›Ödipus‹) aufgedeckt hat? Gefragt wird nach der Wirkung des kulturell Unbewußten. Die Anstrengung gilt der Entzifferung verborgener Erinnerungsspuren im Sinne von J. Assmann.« (Rezension von Axel Schmitt (in: http://www.literaturkritik.de))
Über den Autor
Franz Maciejewski, geboren 1946, Soziologe mit Zusatzausbildung in Psychoanalyse (Zürich), arbeitet an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
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