Details

Autor Quindeau, Ilka
Verlag Suhrkamp
Auflage/ Erscheinungsjahr 17.03.2025
Format 20.8 × 13.4 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 284 Seiten
Gewicht 392
ISBN 9783518588291

»Als Ausdrucksgestalt des Unbewussten, die sich einer kulturellen Semantik bedient und transgenerational weitergegeben wird, steckt Antisemitismus als Potentialität in uns allen.«

Zu diesem Beitrag

Das Konzept des autoritären Charakters und die These von der Schuldabwehr bestimmen seit Jahrzehnten den Diskurs über Antisemitismus in Deutschland. Aber sind sie überhaupt noch hilfreich und vor allem: zeitgemäß? In ihren aufsehenerregenden Adorno-Vorlesungen legt Ilka Quindeau aus psychoanalytischer Perspektive dar, warum das nicht der Fall ist. Beide Erklärungsmodelle aus dem Denkzusammenhang der frühen Kritischen Theorie dienen nämlich der psychischen Entlastung und lenken von der eigenen Involviertheit ab. Nach dem Motto: Antisemiten sind immer die anderen.

Anhand von Fallvignetten aus ihrer klinischen Praxis arbeitet Quindeau heraus, dass es sich bei jener latenten, bewussten Überzeugungen widersprechenden Form des Antisemitismus um eine kulturell vermittelte und transgenerationell übertragene Ausdrucksgestalt des Unbewussten handelt. Diese ist keineswegs an einen bestimmten Charakter gebunden und wird in folgenreicher Weise nicht psychisch, sondern vielmehr strategisch abgewehrt. Um ihr zu begegnen, ist der Vorwurf des Antisemitismus allerdings kein probates Mittel, wie Quindeau am Beispiel der hitzigen Debatten um die documenta fifteen und die Berlinale 2024 analysiert. Das Ziel einer produktiven Kritik des Antisemitismus ist nur mittels Selbstreflexion erreichbar. Nur auf diesem Weg, so zeigt dieses Buch, wird Solidarität möglich sowie ein Mitfühlen mit dem Leid der anderen.

Aus der umfassenden Einleitung der Autorin

"(....)  Teil III des Buches ist der Kritik des Antisemitismus gewidmet, die schon immer ein zentrales Anliegen von Kritischer Theorie und Psychoanalyse darstellt, das ganz offenkundig nichts von seiner Dringlichkeit eingebüßt hat. In Kapitel 1 dieses Teils werde ich noch einmal aus der Perspektive des Unbewussten auf den Antisemitismus schauen und ihn als Ausdrucksgestalt des Unbewussten deuten. Gemeint ist damit, dass sich unbewusste Strebungen eines gesellschaftlichen Codes bedienen und so in die antisemitische Semantik übersetzt werden. Dies scheint gerade in den polarisierten, emotional aufgeladenen gesellschaftlichen Debatten über Antisemitismus der Fall zu sein. Als ich mit den Vorbereitungen zu den Adorno-Vorlesungen begann, waren die Kontroversen über antisemitische Kunstwerke auf der documenta fifteen in vollem Gange. Als Psychoanalytikerin interessierte mich daran weniger die Streitfrage, ob die jeweilige Bildsprache als antisemitisch zu bezeichnen war oder nicht. Bemerkenswerter fand ich die affektive Wucht, von der die Debatten getragen waren, die viele Besucher:innen affiziert und sie offenbar zur Positionierung auf der einen oder der anderen Seite genötigt hat. Seit dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Gaza haben sich die schon während der Documenta spürbare affektive Aufladung, die Härte und die Polarisierung der Debatte noch einmal deutlich gesteigert. Ja, seit vielen Monaten werden die Auseinandersetzungen unerbittlich und deutlich gewaltsamer als zu Zeiten der Documenta geführt. Zu Recht wurde von jüdischer Seite beklagt, dass es zu wenig Mitgefühl und Solidarität mit Israel gibt. Aber auch die hier lebenden Menschen mit palästinensischen Wurzeln vermissen Empathie angesichts der Geschehnisse in Gaza. Erneut schien man sich für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen.

Die hohe affektive Beteiligung, das mangelnde Mitgefühl so- wie die Unfähigkeit, die Komplexität, die Mehrdeutigkeiten und Widersprüche in der politischen Situation stehen zu lassen, erschweren einen konstruktiven, reflexiven Umgang mit diesen Problemlagen. Psychoanalytisch lässt sich dies mit dem Konzept der intergenerationalen Transmissionen erklären, das ich in Kapitel 2 dieses Teils vorstellen werde. Wie bereits während der documenta fifteen wurde der Antisemitismus-Vorwurf zu einem zentralen Strukturmoment dieser Diskurse. Doch verliert die notwendige Kritik des Antisemitismus ihre Wirkung, wenn sie in Form des Vorwurfs erscheint; der Vorwurf fördert hingegen binäres Denken. Ich zeige dies in den Kapiteln 3 und 4 anhand von Beispielen aus dem medialen Diskurs um die documenta fifteen beziehungsweise die Berlinale 2024, in denen sich unbewusste Transmissionen, Konflikte und Abwehrformationen zu zeigen scheinen, die den bewussten, kritischen Intentionen der Autor:innen entgegenwirken. Dies ist jedoch keineswegs den Autor:innen persönlich zuzuschreiben, sondern steht paradigmatisch für Positionen im gegenwärtigen Diskurs über Antisemitismus. Die Reflexion dieses Diskurses mag dazu beitragen, die Haltung des Vorwurfs in die selbstreflexive Kritik zu transformieren."

Inhalt

Einleitung

I Wozu Antisemitismus?

  • 1 Kritische Theorie und Psychoanalyse: Visionen und Probleme der Zusammenarbeit 19
  • 2 Der alteritätstheoretische Ansatz der Psychoanalyse 71
  • 3 Psychoanalytische Antisemitismustheorien 93
  • 4 Antisemitismus als Antwort auf konflikthaftes Begehren 104

II Schuld und Abwehr

  • 1 Gruppenexperiment 121
  • 2 Schuldbewusstsein und Schuldgefühle 128
  • 3 Gefühlsbindungen an den Nationalsozialismus 140
  • 4 Szenen des »Gruppenexperiments« 150
  • 5 Affektive Dynamiken in erinnerungspolitischen Debatten 179
  • 6 Die Persistenz des Antisemitismus 202

III Der Vorwurf des Antisemitismus

  • 1 Antisemitismus als Ausdrucksgestalt des Unbewussten 225
  • 2 Transmissionen 234
  • 3 Ein exemplarischer Diskurs: die Debatte über die documenta fifteen 252
  • 4 Antisemitismusvorwurf bei der Berlinale 261
  • 5 Transmissionen und Antisemitismus 268

Schlussbemerkungen 275 / Dank / Ausführliches Inhaltsverzeichnis 283

Die Autorin

Ilka Quindeau, geboren 1962, ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Science. Außerdem arbeitet sie als Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Quindeau war von 2018 bis 2020 Präsidentin der International Psychoanalytic University (IPU) in Berlin. Neben psychoanalytischer Theoriebildung zählen Geschlechter-, Biografie- und Traumaforschung zu ihren Arbeitsschwerpunkten.

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