Details

Autor Moser, Tilmann
Verlag Brandes u. Apsel
Auflage/ Erscheinungsjahr 2020
Format 23,5 × 15,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 168 Seiten
ISBN 9783955582883

Aus der Einleitung des Autors

"Auch wer nur wenige Jahre als Psychotherapeut oder Psychoanalytiker gearbeitet hat, kennt die Verwirrung, wenn Patienten die oft langjährige Psychotherapie - angekündigt oder nicht, kurzfristig oder plötzlich - abbrechen, verlassen oder grußlos, enttäuscht oder zornig verschwinden.

Der Psychotherapeut bleibt ratlos, verwirrt, geschockt, beleidigt, vergrämt, erleichtert, verzweifelt zurück, rätselt und grübelt, denkt und versucht, sich an die letzten Stunden, Tage, Wochen, Monate oder Jahre zurückzuerinnern. Er oder sie konsultiert seine bzw. ihre Notizen oder ausführlichen Unterlagen. Scham, Enttäuschung, Wut, Versagensgefühle, Fehlerfahndung usw. können ihn heimsuchen oder quälen. Die nächsten Stunden oder Tage mag er niedergeschlagen verbringen. Er sehnt sich nach Einsamkeit, Trost, aber auch nach Gesprächen mit jemand Vertrautem, Kompetentem, bei dem er sich ausweinen, aussprechen, auswüten kann. Oder er denkt an seine Intervisionskollegen, so er welche hat, oder an den aktuellen oder früheren Supervisor, falls die noch für ihn offen sind für Beratung; manchmal auch an seine Gattin, der er manches über den Flüchtigen erzählt haben mag und die weiß oder ahnt, wie nahe er ihm stand. Aber oft überwiegt die Scham in einem Maß, die ihm den Weg in die schmerzliche Offenbarung von möglichen Helfern verbaut.

Falls noch ein Abschiedsgespräch oder -gespräche stattgefunden haben, bleibt er wenigsten in Kenntnis einiger Motive oder vorgeschobener Gründe. Er versucht, die Gefühlslage des Abbrechers zu erspüren, riskiert einige Ermahnungen, Warnungen oder Deutungen. Er fragt sich, ob die Katastrophe erwartbar oder überfallartig hereinbrach, ringt um Fassung, flucht oder weint oder atmet auf, je nach Lage der seelischen und übertragungsbedingten Gefühle. Er wundert sich über die Stärke seiner Affekte und prüft die aufschießenden Stadien der Gegenübertragung oder gerade aufblitzender eigener Übertragungsfetzens, die ja auch einmal aufbrechen dürfen.

Und der Verlassene geht traurig oder gekränkt die letzten Worte des Patienten durch, die da lauten können (eigene Erfahrungen und viele Inter- und Supervisionen): »Ich habe genug; mir reicht’s; ich muss endlich selbständig werden; ich komme nicht mehr; versuchen Sie keine Umkehr meines Entschlusses; bitte keine weitere Kontaktaufnahme.« Man kriegt aber auch Freundliches zu hören: »Ich verdanke Ihnen viel; ich gehe gestärkt hinaus ins Leben und erprobe mich, ich habe immer gestaunt, wie viel Sie kapiert haben.« Aber dann wieder: »Ich habe genug Geld und Zeit und Hoffnung verloren; Sie haben mich nicht verstanden; Sie haben mich enttäuscht; Sie ahnen nicht, wie groß meine Hoffnung auf Sie war.« In buntem Wechsel: »Es bleiben viele Rätsel; Verwandte und Freunde hatten mich ja gewarnt; vielleicht melde ich mich später wieder, bei einem Rückfall, oder wenn ich heirate und Sie einlade. Ich brauche eine Pause; ganz habe ich Ihnen nie getraut. Sie waren der erste Mensch, dem ich voll vertrauen lernte; mein Leben ist voller und schöner geworden; Depression und Leere sind noch längst nicht verschwunden. Danke, Sie waren mein Retter, oder haben mich noch tiefer ins Elend gestürzt; auf jeden Fall: nichts wie weg, ob Sie es nun verstehen oder nicht; was soll’s, ein Bruch oder Abbruch mehr im Leben, na und!« Gehörte Abschiedsworte oder -gedanken, gemurmelt oder halb verschluckt. Alles besser als das Rätsel des schweigenden Verschwindens.

Doch es gibt ja auch die umgekehrten Brüche: Wenn der Therapeut sich gezwungen sieht, ermattet, verärgert oder resigniert eine Behandlung von sich aus, meist schweren Herzens, zu beenden oder nach den ersten Begegnungen gar nicht erst zu beginnen. Dann reiht sich in der Biographie des Patienten die umgekehrte Katastrophe an, die sich oft an eine einzelne oder eine Serie von biographischen Brüchen und Abbrüchen von früher hängt. Es sind auch »schwere Stunden«, wenn er oder sie einem Patienten den Abschied geben muss. Was sich in dem abspielt, bekommt der Therapeut zum Teil noch mit, durch den Schock, das Weinen, die Resignation oder die Wut des Patienten, die das Aufgeben oder Verabschieden und Rauswerfen des Therapeuten hinterlässt. Oft ist es eine jahrelange Verstörung: »Bin ich zu schwierig, untauglich, nicht behandelbar, war ich nicht geduldig genug oder nicht zäh genug im Leiden oder in der Hoffnung? Ich habe jedenfalls genug von Ihrer Deuterei und klugem Gerede, da sich doch nichts ändert. Dann muss ich mir einen Neuen suchen! Oder er wird mich, erträglicher für ihn, begründet weiterschicken. Meine Freundin rät mir ja seit Langem, endlich zu einem Verhaltenstherapeuten zu gehen, da geht es auch schneller.« Und es kann eine lange Reihe von vergeblichen Anfragen erfolgen, weil er sein Anliegen als gebranntes Kind ungeschickt vorträgt oder weil Therapeuten unter Umständen überhaupt zögern, Abbrecher oder Weggeschickte in Therapie zu nehmen.

In dem Therapeuten mag sich abspielen, vielleicht nach länger errungenem Entschluss: »Das tue ich mir nicht weiter an; es scheint mir aussichtslos; dem bin ich nicht gewachsen; ich mag ihn einfach nicht usw. Ich hätte längst auf meinen Partner oder einen Kollegen hören sollen.« Vielleicht sind auch beide erschöpft oder resigniert, oder die Anfangsdiagnose stimmte nicht. Es gibt auch andere, banalere Gründe: Wegzug, berufliche Veränderungen, Krankheit usw. Dann handelt es sich, auch wenn es vom Patienten anders erlebt werden mag, nicht um Brüche oder Abbrüche, sondern um schicksalhafte Trennungen, um die sich ebenfalls viel seelische Arbeit oder Verzweiflung ranken kann. Auch da mag es traumatische Vorgeschichten von notwendigen Trennungen geben, die ebenso einschlagen können wie eine dem Patienten angetane böse Abwendung. (...)

Dieses Thema tauchte in der Ausbildung bisher höchstens am Rande auf, obwohl es besonders für Kandidaten und jüngere Kollegen bedrückend sein kann, mit langwierigen Folgen für Wochen, Monate oder Jahre. Oft geht es um Selbstzweifel, Verunsicherung, Depression, Schuldgefühle, ja Unlust am Beruf, wenn die Katastrophen sich häufen. Mancher hat sogar schon angesichts der Enttäuschungen oder der aktivierten Selbstzweifel den Beruf aufgegeben. Psychotherapeuten und Psychoanalytiker sind mindestens so kränkbar wie normale Menschen, obwohl sie emotionale Katastrophen in langen Lehrbehandlungen und mit einfühlsamer Begleitung mehrfach durchgearbeitet haben sollten. Die Qualifizierten setzen sich geübt und sogar regelmäßig auch verwirrenden Phasen aus und sind es gewohnt, über therapeutische Verstrickungen zu reflektieren oder zu grübeln. An deren Lösungen wollen sie weiter wachsen und schließlich ernten. Doch ein tadelnder oder wortloser Abbruch bedeutet eine andere Wucht der beruflichen Tauglichkeitsprüfüng.

Wenn ein vom Abbruch betroffener Psychotherapeut zur Tröstung oder zur Supervision zu mir kommt, lasse ich ihn zuerst berichten, würdige seinen Zorn oder seine Trauer, seine Versagensgefühle oder die verzweifelten Selbstanklagen. Dann biete ich ihm an, in Form einer Konfrontation auf dem »leeren Stuhl« (Fritz Perls) zum verlassenen Kollegen zu sprechen. Das geht zuerst zögerlich und stockend, dann aber können Tränen kommen oder selbstmitleidige, zornige, verwünschende, ja hasserfüllte Sätze. Im Rollenwechsel dann die Rechtfertigungsversuche, bittere Deutungen, zu spät geäußerte und nachgelieferte Kombinationen oder Rekonstruktionen, die - rechtzeitig verabreicht - vielleicht noch geholfen hätten, wenn sie nicht schon getränkt waren von den verschiedensten Tonarten des Vorwurfs oder der eingetretenen Kühle als Reaktion auf Angriffe oder undurchdringlichen Widerstand.

Ein gemeinsames verstehendes Durchsprechen der Katastrophe ist mit ihm oft nicht mehr möglich. Mein Lehranalytiker, den ich sehr geliebt und bewundert hatte, sagte nach einer bitteren und für beide enttäuschenden Endphase der Analyse: »Ja, das ist traurig, aber meine Erfahrung mit Ihnen kommt späteren Kandidaten mit hoffentlich leichteren Diagnosen zugute.« Ich fühlte mich resigniert verabschiedet und stürzte selbst in eine viel tiefere Resignation.

Genauere Vorgespräche, ein besseres Hinhorchen bei erneuerter Arbeit auf erahnbare Bruchstellen der Beziehung werden von jedem einzelnen Partner individuell oder auch gemeinsam beschlossen. Rechtzeitige Supervision oder Intervision wird vereinbart, gar gefordert oder versprochen, doch der stille Haupttrost der Therapeuten mag lauten: »Ich habe besten Willens und mit bester Vorbereitung gearbeitet, spüre jetzt auch ein Stück Läuterung oder Nachreifung. Wenn ich eines der neueren höchst klugen Bücher über Fehlervermeidung und Fehlerkultur lese, wird es auch bei mir mit der stets verlangten Steigerung meiner Kompetenz schon einen guten Ausgang geben. (...)«

Inhalt

Die Kapitel: Patienten und Therapeuten in Aufruhr 9 - Eine Begegnung 14 - Zwischen großer Nähe und kühler Distanz 18 - Der neue Trend der »Fehlerkultur« 20 - Herkunft, Bedeutung und Rechtfertigung der Fallgeschichten 24 - Die Fallgeschichten 27 - Das Raben-Skript 28 - Unbewusste Körpererinnerungen 33 - Misslingen und Scheitern: ein zentrales Thema in der neueren Publizistik 40 - Georg oder die Angst vor der eigenen Winzigkeit 43 - Abschiedsangst 48 - Eine teilweise missglückte Supervision 53 - Abschied durch Enttäuschung, Missmut, Zorn, Hass, Katastrophe 58 - Wanderwut und Wandersehnsucht 65 - Von der Ehefrau erzwungener Abschied 67 - Abbruch aus Angst vor der Wiederkehr des Traumas: Säuglingspanik 71 - Schlag nach bei Zwiebel 77 - Der Beginn der vierzigsten Stunde 78 - Abschied auf Raten 81 - Längste Therapie, längste Zweifel, längstes Chaos und längster Abschied 84 - Die ängstliche Ausdünnung einer scheinbar halb gelingenden Therapie 87 - Eine ausgefranste Therapie 90 - Sanftes Ausschleichen der Analyse in theologische Gespräche 97 - Abnehmendes Lebensinteresse: Eine Trennung auf Raten 102 - Scheitern durch Rivalität 109 - Zwischenfrage: Warum dieses Buch? Eine Rechtfertigung? 113 - Abschied wegen Entfernung und Gebrechlichkeit 116 - Abschied wegen beiderseitiger Ermattung 119 - Gutes, wenn auch unvollendetes Ende 124 - Verzweifelter Widerstand und mangelnde Introspektion 131 - Abbruch wegen »mangelnder Sensibilität« von mir 135 - Ausstieg aus dem Jammertal und später gutartiger Abschied 139 - Vatersuche und befremdendes Ende 145 - Der Sieg der bösen Introjekte 151 - Bilanz 159.

Der Autor

Tilmann Moser, geboren 1938, studierte Philologie, Politik und Soziologie; im Frankfurter Sigmund-Freud-Institut absolvierte er seine Ausbildung zum Psychoanalytiker, seit 1979 arbeitet er in freier Praxis als Psychoanalytiker in Freiburg. Er hat die klassische Psychoanalyse um den körperlichen Aspekt erweitert: zur psychoanalytisch orientierten Körperpsychotherapie.

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