Details

Autor Vishniac, Roman
Herausgeber Wiesel, Marion (Hg.)
Verlag Kindler Vlg., München
Auflage/ Erscheinungsjahr 1993, EA
Format 26,0 × 26,0 × 2,0 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Geb. mit SU
Seiten/ Spieldauer 160 Seiten
Gewicht 1200 g
SFB Artikelnummer (SFB_ID) 9783426402283

Aus der Verlagsankündigung zu diesem Buch

In den eindringlichen, einfühlsamen Bildern des großen Fotografen Roman Vishniac werden die Menschen der ostjüdischen Schtetl für uns noch einmal lebendig. Diese Bilder zeigen uns eine Welt, die gekennzeichnet war von Natürlichkeit und Tradition, von Lebendigkeit und Einfachheit und die nichts ahnte von der gnadenlosen und endgültigen Vernichtung, die so nahe bevorstand.

1935 wurde Vishniac vom »Hilfsverein der deutschen Juden« gebeten, das traditionelle jüdische Leben in Osteuropa zu dokumentieren. Zwischen 1936 und 1939 reiste er Tausende von Kilometern durch Polen und Weißrußland, Ungarn, die Slowakei und die baltischen Länder. Die Menschen hielten ihn für einen Tuchhändler. Sie wußten nicht, daß er Aufnahmen von ihnen machte. Sie hätten dies auch nicht erlaubt, weil sie das biblische Gebot »Du sollst dir kein Bildnis machen« irrtümlich für ein Verbot hielten, sich fotografieren zu lassen.

Die - technischen und politischen -Schwierigkeiten, mit denen Roman Vishniac zu kämpfen hatte, waren groß. Er entwickelte seine Filme im Sternenlicht und wässerte sie in den Flüssen. Häufig entwickelte aber auch die Polizei sein Material. Man hielt ihn für einen Spion und suchte Beweise. Elfmal war er im Gefängnis. Roman Vishniac war seit Mitte der dreißiger Jahre davon überzeugt, daß Hitler die Juden ausrotten würde. Er wußte, daß er sein Volk nicht retten konnte - nur die Erinnerung daran. Roman Vishniac wurde 1897 bei St. Petersburg geboren. Er studierte Medizin, Biologie, Zoologie und Kunstgeschichte und erhielt mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen. Nach der Oktoberrevolution zog die Familie nach Berlin. In den Jahren zwischen 1936 und 1939 unternahm Vishniac, mittlerweile ein bekannter Fotojournalist, mehrere ausgedehnte Reisen durch Osteuropa. Seine Bilder sind die letzten authentischen Zeugnisse der ostjüdischen Welt vor ihrer Vernichtung. Roman Vishniac, der seit 1941 inden USA lebte, starb 1990 in New York.

Inhalt

GELEITWORT von Comell Capa 9 / DANKSAGUNG von Marion Wiesel 10 / ANMERKUNG DER HERAUSGEBERIN von Marion Wiesel 11 / VORWORT von Elie Wiesel 13 / PRESSBURG 17 / KARPATO-UKRAINE 31 / MUKACHEVO 52 / WARSCHAU 67 / LODZ 89 / LUBLIN 105 / SLONIM 119 / GALIZIEN 131 / KRAKAU 132 / OSTGALIZIEN 142 / WILNA 149 / ZUR BIOGRAPHIE von Mara Vishniac Kohn 160

Vorwort von Ellie Wiesel

"Für all jene unter uns, die Roman Vishniac gekannt haben, ist es schwierig, von ihm in der Vergangenheitsform zu sprechen. Wie seine Fotos, so wirkt auch seine Persönlichkeit fort. Ihm verdanken wir die Erkenntnis, daß eine Welt, die zerstört wurde, ihren eigenen Untergang überleben kann. Betrachten Sie die Fotografien dieses Buches, und Sie werden verstehen, warum Erinnerung so wichtig ist. Schneidet man einen Menschen von seiner Vergangenheit oder von der seiner Familie oder seines Volkes ab, so beraubt man ihn seiner Einzigartigkeit, seiner individuellen Besonderheit.

Roman Vishniacs früherer Bildband Verschwundene Welt ist ein eindrucksvolles Kaleidoskop jüdischen Lebens in fernen Städten und Dörfern. Im vorliegenden Buch ist die Anordnung der Fotos strukturierter, systematischer. Schließlich ist dies ein postumes Werk ... Wo Menschen und Bücher lebten führt uns auf eine Reise, eine unvergeßliche Reise, von Preßburg nach Mukachevo und in die Karpato-Ukraine und weiter quer durch die typischen und für immer verlorenen jüdischen Gemeinden in Polen und Litauen - Warschau und Lodz, Lublin und Krakau, Slonim und Wilnd. Wir sehen Juden in jenen letzten Minuten, ehe sie durch einen Sturm von Feuer und Asche aus der Geschichte gerissen wurden, als ihr Leben noch von Energie und schöpferischer Kraft erfüllt war. Wir lernen ihre Städte und Dörfer kennen, ehe sie in Flammen aufgingen.

Hierin lag Roman Vishniacs einzigartige Begabung: Mit seinen Fotos rückt er all das ins Licht, was vorher war, all das, was in der Vergangenheit geworden war, all das, was vor der Tragödie dieses Jahrhunderts lag, das sich nun dem Ende zuneigt. In seiner Rolle als privilegierter Beobachter war er sich auch seiner Verantwortung bewußt, und er war entschlossen, ungeachtet des drohenden Verhängnisses noch einen Blick, noch eine Geste festzuhalten, hier das Bild eines alten Mannes, dort das eines Kindes einzufangen, bevor sie dem Feind zum Opfer und der Vernichtung anheimfielen.

Als Persönlichkeit beeindruckte uns Roman Vishniac sowohl durch die Weite seiner Vorstellungskraft als auch durch die Tiefe seiner Erinnerung. Es war ein Erlebnis, ihm zuzuhören, wenn er eines seiner Bilder kommentierte: Jedes Bild hatte seine Geschichte, jede Geschichte war ein Abenteuer, jedes Abenteuer hatte eine Moral, eine philosophische Botschaft. Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler mit einem sarkastischen Humor, und er schlug uns mit seinen Geschichten in Bann.

Für ihn waren Worte und Bilder untrennbar verbunden. Er ließ uns die Szene nicht nur so sehen, wie er sie fotografiert hatte, sondern wie sie sich ihm gezeigt hatte, bevor er sie mit der Kamera einfing. Es kam uns plötzlich vor, als seien wir dort, an seiner Seite, mit ihm unterwegs, um - als wäre es zum letzten Mal - jüdisches Leben in fernen Gegenden aufzuspüren, wo die Zeit stillstand, wo die Stimme der Erinnerung nicht verstummen und ihr Echo nicht verhallen wollte. Dieses Buch macht es uns möglich, jenen Zeitabschnitt mit Vishniacs Augen zu sehen. So wie man von »Rembrandts Licht« spricht, wird man von »Vishniacs Zeit« sprechen. Für ihn war es eine Zeit des Leids und des Mitleids.

Es scheint, als habe er die Juden auf seinen Bildern in seine Welt aufgenommen, weil es sonst keinen Platz für sie gab. Er liebte sie, und er macht sie auch uns liebenswert. Und dafür lieben wir ihn.
Und weil er mit diesem Buch seine Sichtweise auch weiterhin mit uns teilt, wollen wir ihn direkt ansprechen: Dir, Roman, verdanken wir es, daß der Henker nicht völlig obsiegt hat. Wohl konnte er die Opfer und damit ihre Zukunft töten, doch Deine Kunst hat verhindert, daß er auch ihre Vergangenheit tötete.

Die alten Juden auf Deinen Bildern mit ihren traurigen, traumverlorenen Gesichtern: Ich kannte sie gut. Deine jüdischen Kinder, so voller Hoffnung und Unschuld, die Köpfe unter dem wachsamen Auge des Melammed (Lehrer) über das Buch der Bücher gebeugt: Ich saß mit ihnen auf der Schulbank. Als der Tod schon die Hand auf sie legte, hast Du sie vor dem Vergessen bewahrt. Du hast dich ihnen nicht nur als Fotograf, sondern als Mensch zugewandt. Nur wenige haben soviel getan wie Du, damit sie nicht vergessen werden.

Ich betrachte Deine Bilder, die so unverwechselbar sind, und ich frage mich: Wer wird zu uns sprechen, wie Du gesprochen hast? Wer wird brennende Erinnerungen in uns wachrufen, voller Hoffnung und Verzweiflung, voller Freudentränen und erstickter Schmerzens-schreie? Wer wird uns von »Trägern schwerer Lasten« erzählen, die unter Seufzern Psalmen aufsagten? Wer wird für uns jenen Augenblick wiedererstehen lassen, als die Welt bestimmt schien, vom Abgrund verschlungen zu werden?

Oft, wenn Marion und ich Dir zuhörten, hatten wir das Gefühl, Du seist bei uns und doch auch weit weg, als wandertest Du immer noch durch jene fernen Ortschaften und Siedlungen ... Als befändest Du Dich bei einem chassidischen Rabbi im Kreis seiner eiferdurchglühten Schüler, oder in einer entlegenen Jeschiwa (talmudische Hochschule) in einem Winkel der Karpaten und würdest die Studenten beobachten, wie sie sich vor und zurück wiegen, während sie die tiefere Bedeutung eines uralten Gesetzes erforschen. Oder auf einem jener allgegenwärtigen Märkte, unter den Händlern, bei denen man alles, von »jüdischen Rettichen«, wie Du sie nanntest, bis hin zu Nadel und Faden, kaufen konnte. Oder in den engen, gewundenen Gassen des Schtetl, hinter Dir einen Schwärm von Straßenkindern, die Dir folgten, weil sie auf Dich neugierig waren und auch, weil Du sie zum Lachen brachtest ... und zum Träumen. Du liebtest sie, diese Juden, die keiner liebte.

Wußten sie, daß Leiden, Exil und Feuerofen schon über sie verhängt worden waren? Du, Roman, Du wußtest es. Du hast verstanden. Und gerade darum liebtest Du sie noch tausendmal mehr. Der Feind hat ihr Leben vernichtet, Du hast ihr Leben für uns bewahrt (...)."  - Dezember 1992, Elie Wiesel

Über den Fotografen Roman Vishniac - aufgezeichnet von seiner Tochter

"Mein Vater Roman Vishniac wurde am 19. August 1897 in der Nähe von St. Petersburg geboren und wuchs in Moskau auf. Für eine jüdische Familie war es ein nur mit Sondergenehmigung erhältliches »Privileg«, in der Hauptstadt wohnen zu dürfen. War dieses Privileg einmal erteilt, konnte es von Generation zu Generation vererbt werden, Romans Vater Solomon war ein wohlhabender Schirmfabrikant, die Verwandtschaft mütterlicherseits war im Diamantengeschäft tätig, Solomon hatte zehn Geschwister; Roman und seine Schwester hatten also viele Kusinen und Vettern, von denen einige ausgeprägte wissenschaftliche Interessen aufwiesen. Vielleicht ist es ihrem Einfluß zuzuschreiben, daß sich auch Roman für die Naturwissenschaften begeisterte. Als Junge bekam er ein Mikroskop und eine Kamera geschenkt; es gelang ihm, beides zu kombinieren und so seine ersten Mikrofotografien zu machen.
Nach dem Ersten Weltkrieg und den Wirren der Oktoberrevolution entschlossen sich viele jüdische Familien, sich in ruhigeren und sichereren Teilen der Welt eine neue Existenz aufzubauen. Berlin galt als Metropole des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens; viele Mitglieder der Familie Vishniac hatten dort studiert. Hier ließen sich Solomon und Manya, Romans Eltern, nieder, und kurze Zeit später zog auch der Jungverheiratete Roman mit seiner Frau Luta nach Berlin.

Anfang der dreißiger Jahre nahm der in Polen stark ausgeprägte Antisemitismus weiter zu, und die ersten, die unter den verschärften Gesetzen und Bestimmungen zu leiden hatten, waren jene jüdischen Familien, die in bescheidenen Verhältnissen in den traditionellen jüdischen Gemeinden lebten. Das Berliner Büro des »Hilfsvereins der deutschen Juden« bat Roman, nach Osteuropa zu fahren, um das Alltagsleben der Schtetl in Bildern festzuhalten. Seine Fotografien sollten dazu dienen, Mittel zur Unterstützung der verarmenden Gemeinden aufzubringen. Vor Ort war Roman tief beeindruckt von den hart arbeitenden Männern, Frauen und Kindern, die trotz zunehmenden Drucks an ihren überlieferten Gebräuchen festhielten. In den folgenden vier Jahren, von 1935 bis 1939, durchstreifte Roman mit seiner Kamera auf mehreren Reisen Polen, die Karpato-Ukraine, die Slowakei und Ungarn. Dazwischen kehrte er immer wieder nach Berlin zurück, um in der Dunkelkammer seine Filme zu entwickeln und davon jene Abzüge herzustellen, die schließlich zum letzten fotografischen Dokument traditionellen jüdischen Lebens vor der grausamen Auslöschung werden sollten.

Nach Ankunft unserer Familie in New York im Jahre 1941 (Roman war zuvor in Gurs in Frankreich interniert gewesen) setzte mein Vater alles daran, seine fotografischen Dokumente zu veröffentlichen. Er glaubte, daß Bilder der in Gefahr schwebenden Gemeinden die amerikanische Öffentlichkeit aufrütteln und dadurch die katastrophale Entwicklung selbst zu diesem Zeitpunkt noch abwenden könnten. Doch es sollte, wie wir heute wissen, noch Jahre dauern, bevor wir bereit waren, uns der furchtbaren Wahrheit zu stellen. Während Roman seine Bemühungen um die Veröffentlichung dieser Aufnahmen fortsetzte, schuf er seine heute weithin bekannten Porträts von Albert Einstein, Marc Chagall und anderen Persönlichkeiten; auch seine mikrofotografische Arbeit, deren Ergebnisse durch Life und andere Zeitschriften allgemeine Verbreitung fanden, war ihm nach wie vor wichtig. (...) - Als mein Vater am 22. Januar 1990 starb, wußte er, daß seine Fotografien auch weiter zu uns sprechen und uns helfen würden, unser Volk und sein Schicksal nicht zu vergessen und unsere Solidarität mit den Verfolgten und Unterdrückten zu stärken." -  November 1992, Mara Vishniac Kohn

Pressestimmen zum Buch

"Meine Arbeit war die Suche nach der Wahrheit und Ewigkeit", beschreibt Roman Vishniac sein Werk. Vishniac war ein erzählender Seher und ein sehender Erzähler. Mit dem Band "Wo Menschen und Bücher lebten" begleiten wir ihn auf einer traurigen Abschiedsreise durch die untergehende ostjüdische Welt.

Wir sehen spitzbübisch lächelnde Kinder mit ihrem armseligen Spielzeug auf dem Knubbelpflaster des Ghettos von Lodz. Gassen, die gesäumt sind von schiefen Häusern mit abgeblätterten Wänden und halsbrecherischen Stiegen. Wir blicken in Werkstätten von Wachslichtziehern und Gebetsmäntelschneidern. Wir verharren ungläubig beim Anblick der leuchtenden Fröhlichkeit der Schuljungen im Cheder von Uschgorod. Vergessene Namen, vergessene Orte. Wieviel Hoffnung auf Erlösung keimt in den Gesichtern - was kam, war die Vernichtung. (...)" - Aus einer ausführlichen Rezension der Süddeutschen Zeitung SZ in Ausgabe 41 (1993)

Vishniac arbeitete mit versteckter Kamera. Für seine Schnappschüsse muß sich niemand erst lange in Positur stellen, oft genug blicken die Menschen geradewegs ins Objektiv. Das verleiht den Abgebildeten eine tiefe Würde in ihrer Haltung. Licht und Schatten verwandeln die Photos in Bilder, deren Atmosphäre die Antwort eines gottergebenen Alten verrät, den Vishniac fragt, wie lange er denn schon unterwegs sei: "Seit alles begann", antwortet er und trottet weiter.

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