Details

Autor Bauer, Joachim
Verlag Blessing
Auflage/ Erscheinungsjahr 27.05.2019
Format 22.1 × 14.6 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 256 Seiten
Gewicht 407
ISBN 9783896676207

Zu diesem Buch

Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften deuten klar darauf hin: Der Mensch wird ohne ein Selbst geboren. Wie aber entsteht unser Ich, das sich seiner bewußt wird und sich später von anderen Menschen abgrenzen kann? Wie gelingt es uns Menschen, ein Ich, Du oder Wir zu denken, zu fühlen, zu erleben? Was macht einen Menschen zum Individuum?

Diesen zentralen Fragen geht  der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer in seinem neuen Buch Werk nach, und er legt dar, dass unser »wahres Selbst« nicht in uns schlummert wie ein Bodenschatz, der darauf wartet, gefunden und poliert zu werden. Vielmehr ist es das Ergebnis von Resonanzen – von im Dialogischen, in resonanten Prozesen, am Mitmenschen gewonnenen und geteilten Erfahrungen, Freuden und Ängsten.

Joachim Bauer zeigt, dass dieses Ich nicht – wie lange angenommen – in Stein gemeißelt ist, sondern im Prozess ständiger Selbst-Konstruktion (im ungünstigen Fall durchaus auch einer regressiven Selbst-Dekonstruktion) plastisch ist und wandelbar bleibt, mithin wachsen, reifen und sich verändern kann. In Zeiten grassierender Ichbezogenheit und gesellschaftlicher Strömungen, die Selbstbehauptung durch Abgrenzung gegenüber anderen forcieren, vermittelt der Autor einen Eindruck davon, wie wir werden, wer wir sind, und er erklärt, warum dieser Weg nur in der Sozietät, im lebendigen Austausch von ich, Du und Wir, gangbar und zielführend sein kann.

Der Autor zu seinem Buch

1) Warum ein Buch zu diesem Thema?: Wo die Frage nach der Entwicklung der Persönlichkeit gestellt und diskutiert wird, standen bis heute biologische bzw. biologistische Erklärungsansätze nach wie vor im Vordergrund. Die spektakuläre, erst vor wenigen Jahren gemachte Entdeckung der neuronalen Korrelate des Selbst, der sogenannten Selbst-Netzwerke („Self Networks“), stieß eine Tür auf und ließ auf dies Frage, wie unser Selbst entsteht, neues Licht fallen. Denn jene Hirnregion (der Präfrontale Cortex/PFC), in die sich die Selbstnetzwerke im Laufe der ersten etwa zwei Jahre „einnisten“, ist zum Geburtszeitpunkt neurobiologisch noch vollständig unreif und funktionsuntüchtig. Diese Region reift erst im Verlauf der ersten zwei Lebensjahre langsam heran (ihre Reifung findet erst mit dem etwa 18. Lebensjahr einen vorläufigen Abschluss, entwickelt sich danach aber lebenslang weiter). Damit stellen sich zwei Fragen: Wie kommen, trotz eines fehlenden kognitiven Adressaten, Säugling und Bezugsperson(en) zu Beginn des Lebens miteinander in Kontakt? Und: Wie kommt das Selbst ins Kind? Die Antwort auf diese Fragen stehen am Anfang von Bauers neuem Buch.

2) Welche neuen Perspektiven eröffnet das Buch?: Das Buch beschreibt, von einer neurowissenschaftlichen Perspektive herkommend, die Entstehung des menschlichen Selbst, seine lebenslange Weiterentwicklung, seine Bedeutung im sozialen Beziehungsgefüge, die Möglichkeiten seiner Beschädigung und Vernichtung sowie die Voraussetzungen guter Selbstfürsorge. Seine Entstehung verdankt das menschliche Selbst interpersonellen Resonanzvorgängen zwischen Säugling und Bezugsperson(en). Die neurobiologische Grundlage dazu bildet ein neuronales Resonanzsystem, welches bereits bei Geburt hinreichend funktionstüchtig ist, so dass Säugling und Welt in einen durch intuitive Imitations- und Spieglungsvorgänge hergestellten Kontakt kommen können. Den zentralen ein oder zwei Bezugsperson kommt für den Säugling die Rolle eines externen „Extended Self“ zu (in dem Sinne, in dem die angloamerikanischen Philosophen David Chalmers und Andy Clark dieses Thema 1998 eröffnet haben; ihre Ansätze werden im Buch erwähnt).

Die Resonanzen, die der Säugling - u. a. in Reaktion auf seine vielfältigen vorbewussten vitalen Lebensäußerungen - von seinen Bezugspersonen erhält, lösen in ihm resonante Mitreaktionen aus, die keine flüchtige, ephemere Erscheinungen sind, sondern im Kind eine neuronale, ins Körpergedächtnis (Insula, Amygdalae, ACC) eingeschriebene (und zugleich natürlich auch psychische) Spur hinterlassen. Die an den Säugling gerichteten Resonanzen geben dem Säugling zum einen eine Auskunft, dass er ist, zum anderen aber auch wer er (oder sie) ist. Die Tonalität der am Säugling vorgenommenen Handlungen -ergänzt durch die Signale Körpersprache bis hin zum Singsang des Babytalks- geben dem Säugling eine Auskunft zwischen zwei Polen, wobei der eine Pol durch die verinnerlichte Botschaft „Ich bin willkommen auf dieser Welt“, der andere Pol durch die ebenfalls verinnerlichte Ansage „Ich mache anderen nur Ärger und falle lästig“ markiert ist. Die vielfältigen, aus seiner sozialen Umgebung an ihn adressierten Resonanzen werden von Säugling über die ersten Lebensmonate hinweg integriert und bilden den Kern eines ersten Selbst-Gefühls.

3) Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu? : Aus dem oben dargestellten Zusammenhängen wird deutlich, dass das menschliche Selbst -in der Phase seiner Entstehung- etwas dem Menschen Gegebenes ist. Bauers Buch spricht von vertikalen (von der Bezugsperson zum Kind gehenden) Selbst-Transfers. Es schlägt insoweit eine Brücke zwischen neurowissenschaftlichen Einsichten und einem in der Psychoanalyse laufenden Diskurs, vertreten durch den französischen Analytiker Jean Laplanche, in Deutschland vor allem durch Ilka Quindau (seit Kurzem Präsidentin der International Psychoanalytic University in Berlin).

Wie diese Autoren/innen, so entwickelt auch Bauer die Perspektive, dass dem Kind keine rein passive Rolle zukommt, sondern dass es früh (deutlich sichtbar im zweiten Lebensjahr) beginnt, sich in seine Selbstkonstruktion einzumischen und mit voranschreitendem Alter immer aktiver an ihr mitzuwirken, d. h. einerseits, zu sortieren, was in das eigene Innere hineingegeben wurde und passiv Erfahrenes zu modifizieren (hier wäre der psychoanalytische Begriff der „Umschrift“ zu erwähnen), andrerseits die internalisierten „Contents“ in Aktivität zu verwandeln und schließlich auch proaktiv zu selektieren, welche Menschen oder Angebote es als mit sich kongruent annehmen oder als inkongruent zurückweisen möchte.

Bauers Buch betont, dass die Hineinentwicklung in eine aktive, an der Selbstkonstruktion beteiligte Rolle voraussetzt, dass dem Kind von seiner sozialen Umwelt etwas gegeben, d. h. konkret etwas angeboten, nicht zuletzt auch etwas abgefordert wurde. Anhand der Ich-Erzählerin in Helene Hegemanns 2018 erschienenen Roman „Der Bungalow“ schildert Joachim Bauer, dass dort, wo einem Kind nichts gegeben, nichts angeboten und nichts abgefordert wurde, nicht etwa kreativer Freiraum entsteht (eine, so Bauer, in manchen pädagogischen Kreisen favorisierte irrige Annahme), sondern dass hier im besten Falle Selbstunsicherheit, im schlimmsten Fall - wie u. a. auch bei der Romanfigur- Leere, Verzweiflung, Selbstzerstörung und Aggression Einzug hält.

Die Perspektiven des Buches reichen über Fragen der Kindheit und der Pädagogik (einschließlich der Schulpädagogik) jedoch weit hinaus. Interpersonelle Resonanzen und die durch sie veranlassten „horizontalen Selbst-Transfers“ bestimmen die lebenslange Entwicklung des Selbst. Der Mensch oszilliert dabei zwischen Identitätsbewahrung (Ablehnung nicht passender Menschen und Angebote) einerseits und Durchlässigkeit (Bereitschaft, sich durch andere inspirieren und verändern zu lassen) andrerseits. Die Mitte und den Abschluss des Buches bilden Kapitel über die Partnerschaft, über Selbst-Körper-Sexualität, über die Bedeutung der menschlichen Arbeit, über Verbiegungen des Selbst (Narzissmus, pathologische Abhängigkeit, Depression), schließlich über seine Beschädigung (Traumafolgen) und Zerstörung (Demenz).

4) Mit wem würde der Autor sein Buch am liebsten diskutieren?: Das Buch kann einen interdisziplinären Diskurs anstoßen, bei dem insbesondere NeurowissenschaftlerInnen, PsychoanalytikerInnen, PädagogInnen miteinander ins Gespräch kommen. Darüber hinaus wagt es, indem es eine Romanfigur aus einem Roman Helene Hegemanns thematisiert, einen Crosstalk zwischen Fiction (Belletrestik) und Nonfiction (Sachbuch)

5) Das Buch in einem Satz: Der Mensch wird ohne Selbst geboren, das Selbst verdankt seine Entstehung und lebenslange Weiterentwicklung den Resonanzen, die wir lebenslang von anderen Menschen empfangen.

Der Autor

Joachim Bauer, Prof. Dr. med., Jg. 1951, ist Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut. Nach erfolgreichen Jahren an der Universität Freiburg lehrt und arbeitet er heute in Berlin, u. a. im Rahmen einer Gastprofessur an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU). Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, u. a. »Warum ich fühle, was du fühlst«.

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