Details

Autor Perec, Georges
Verlag Diaphanes
Auflage/ Erscheinungsjahr 28.02.2012
Format 12,3 × 1,8 × 18,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 176 Seiten
Gewicht 191
ISBN 9783037342251

Mit der Neuauflage dieses lange vergriffenen Werks wird eine der »faszinierendsten Autobiographien des 20. Jahrhunderts« (DIE ZEIT) endlich wieder der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich.

Zu dieser literarischen Autoniografie

In einer meisterlichen und verstörenden Erzählung verdichten sich Perecs Kindheitsphantasien von der utopischen Insel W, auf der das ganze Leben dem Sport gewidmet ist, mit den Erinnerungen an den Holocaust und den frühen Verlust der Eltern zu einer alptraumhaften Vision, die niemanden unberührt lässt.

Zwei Erzählungen, die sich überkreuzen, verschränken und schließlich in einem fulminanten Crescendo ineinander übergehen, prägen den Aufbau des Buches: die Phantasiewelt, die sich Perec als 13-jähriger Junge erfand, und ein autobiographischer Bericht, der eine chronologische Familiengeschichte nachzuzeichnen versucht. Das Ringen um eigene, intime Erinnerungen im Nebel einer unerträglichen Vergangenheit findet eine unerhört kühne formale Darstellung, die es in der sorgsamen Übersetzung von Eugen Helmlé wiederzuentdecken gilt.

Textauszug

"Ich habe lange gezögert, bevor ich den Bericht über meine Reise nach W in Angriff nahm. Ich entschließe mich heute dazu, von einer zwingenden Notwendigkeit getrieben, weil ich überzeugt bin, dass die Ereignisse, deren Zeuge ich gewesen bin, enthüllt und ans Licht gebracht werden müssen. Ich habe mir die Skrupel - und fast möchte ich sagen, ich weiß nicht warum, die Vorwände - nicht verhehlt, die sich einer Veröffentlichung entgegenzustellen schienen. Lange habe ich das Geheimnis dessen, was ich gesehen hatte, für mich behalten wollen; es stand mir nicht zu, über den Auftrag, den man mir anvertraut hatte, auch nur das mindeste zu verbreiten, zumeinen, weil dieser Auftrag vielleicht nicht ausgeführt worden ist - aber wer hätte ihn wohl zu einem guten Ende fuhren können? -, zum andern, weil der, der ihn mir anvertraut hatte, ebenfalls verschwunden ist.

Lange war ich unentschlossen. Langsam vergaß ich die zweifelhaften Zwischenfälle dieser Reise. Doch meine Träume wurden heimgesucht von den Gespensterstädten, von den blutigen Wettläufen, deren tausendfaches Geschrei ich noch zu hören glaubte, von den wehenden Wimpeln, die der Wind des Meeres peitschte. Verständnislosigkeit, Entsetzen und Faszination verschwammen in eins in diesen Erinnerungen ohne Boden.

Lange habe ich nach den Spuren meiner Geschichte gesucht, mich durch Karten und Jahrbücher, Berge von Archivmaterial gewühlt. Ich habe nichts gefunden und manchmal war mir, als hätte ich geträumt, als wäre alles nur ein unvergesslicher Alptraum gewesen.

Vor... Jahren habe ich in Venedig in einem billigen Restaurant in der Giudecca einen Mann hereinkommen sehen, den ich zu erkennen glaubte. Ich bin auf ihn zugestürzt, aber bereits zwei oder drei Worte der Entschuldigung stammelnd. Es konnte keinen überlebenden geben. Was meine Augen gesehen hatten, war wirklich geschehen: die Lianen hatten die Verfugungen gelockert, der Wald hatte die Häuser verschlungen; der Sand wehte die Stadien zu, die Kormorane ließen sich zu Tausenden nieder und dann Stille, plötzlich eisige Stille. Was auch geschieht, was ich auch tue, ich war der einzige Mitwisser, das einzige lebende Gedächtnis, das einzige Überbleibsel jener Welt. Dies, mehr noch als jede andere Überlegung, hat mich zu schreiben veranlasst.

Einem aufmerksamen Leser wird aus dem oben Dargelegten sicherlich klar, dass ich bei dem, worüber Zeugnis abzulegen ich mich anschicke, Zeuge war und nicht Beteiligter. Ich bin nicht der Held meiner Geschichte. Ich bin eigentlich auch nicht ihr Dichter. Selbst wenn die Ereignisse, die ich erlebt habe, den bis dahin unbedeutenden Lauf meines Daseins grundlegend verändert haben, selbst wenn sie noch mit ihrem ganzen Gewicht auf meinem Verhalten lasten, der Art und Weise, die Dinge zu sehen, möchte ich mich, um von ihnen zu berichten, doch des kühlen, gelassenen Tons des Ethnologen bedienen: ich habe diese versunkene Welt besichtigt, und folgendes habe ich gesehen. Nicht die hitzige Leidenschaft Achabs erfüllt mich, sondern die freischweifende Träumerei Ishmaels, die Geduld Bartlebys. Sie bitte ich nun noch einmal, wie schon so oft, meine schützenden Schatten zu sein. (...)."

Der Autor

Georges Perec war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

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