Details

Autor Möde, Erwin
Verlag Roderer Verlag
Auflage/ Erscheinungsjahr 14.08.2023
Format 21 × 14.8 cm
Seiten/ Spieldauer 208 Seiten
Gewicht 220
ISBN 9783897839915

Zu dieser Erzählung

Diese Erzählung handelt von einem erfolgreichen Mann, der auf seine diskrete Weise nicht aus dem Leben, sondern aus dem Begehren der anderen scheiden möchte. Eine Flucht, wohin auch immer, so erkennt er, wäre keine Problemlösung und ganz also sinnlos: Man würde ihn aufspüren und veranlassen, besser ganz der „Alte“ zu bleiben. Deshalb entscheidet er sich, alles auf eine Karte, nämlich auf die nicht ganz ungefährtliche Diagnose „Alzheimer“ zu setzen, die ihm gewisse Möglichkeiten der Verhüllung eröffnet. Sein Leben nimmt durch diesen Kunstgriff alsbald eine ganz abenteuerliche Wendung; sie eröffnet ihm ein neues Selbstverständnis und eine ganz neue Beheimatung freischwebender Ruhe und innerer Geerdetheit.

Inhalt

I. Kapitel: Vorbereitung

  1. Hinweise für den Leser
  2. Der Schrecken
  3. Das Seniorenstudium
  4. Der Traum
  5. Beim Notar
  6. Beim Psychiater
  7. Geburtstagsvorbereitung
  8. Die Insel
  9. Das Fest

II. Kapitel: Durchführung

  1. Nachrede(n)
  2. Die Konfrontation
  3. Inselbekanntschaft
  4. Der Filnviss 
  5. Das Schachspiel
  6. Das Zypemgras
  7. Gewitter
  8. Die Einvveisung
  9. Die Generalvollmacht 
  10. Der Unfall

III. Kapitel: Veränderung

  1. Die Beisetzung
  2. Das Testament
  3. Einsamkeit
  4. Der Anruf
  5. Das Treffen
  6. Die Reisen
  7. Montana
  8. Lake Cröwford
  9. Die Krise
  10. Die Widerkehr

Aus dem ersten Kapitel: Hinweise für den Leser

Diese Geschichte erzählt von einem Mann, der auf seine diskrete Weise aus dem Leben schied. Er brauchte dazu weder ein Seil noch eine Pistole oder Irgendein anderes Hilfsmittel. Es erschien auch keine Todesanzeige, sodass niemand in Erstaunen, Gefühlsregung oder gar Schadenfreude versetzt worden wäre. Oliver Kerschenbaum, so sei der Held unserer Erzählung genannt, fand eine andere Methode, um aus seinem Leben zu scheiden. Diese Methode verfeinerte er über viele Monate hin. Er kultivierte sie wie ein Kellermeister einen guten Champagnerjahrgang, der seine Einzigartigkeit, über viele Flaichendrehungen und Handhabungen hin entfaltet. Oliver verabscheute Brutalität. Selbst kleine Blutwunden erschreckten ihn. Der starre Blick aus den aufgerissenen Augen toter Fische versetzte ihm Übelkeit. Nein, er wollte und kannte keinen physischen Selbstmord begehen. Deshalb erfand er eine andere Methode, um aus dem Leben zu scheiden. Welche? Er schied aus dem begehren.

Per Abschied verlangte all seine Willenskraft, List und Wachsamkeit, um sich nicht zu verraten. Sein Rückzug brauchte eine perfekte Tarnung, ein zweifelsfreies Alibi, eine unanfechtbare Diagnose, um endlich ausgemustert zu werden. So weit er sich zurückerinnern konnte, war das Begehren der Anderen auf Ihn gerichtet. Er wurde Gefangener, Profiteur und Betrogener dieses Begehrens, das sein Leben und Lächeln substantiell formte, seine Erfolge, Liebschaften und Handbewegungen bis hin zu der, wie er sein Scheckbuch zog und gut leserlich mit "Dr. Oliver Kerschenbaum" unterschrieb.

Geübt in der Welt des Begehrens wusste er, dass sie ihn keinesfalls aus ihr ausziehen lassen würde. Sie - das waren, der besorgten Meute voran, seine Frau Helena und sein Prokurist Scheible. Beide brauchten ihn, damit es ihnen gut ging. Die Firma und das Finanzamt, die Familie und seine beiden Töchterfrauen, seine Schwiegersöhne und die örtliche Kirchgemeinde, sein Weinlieferant und seine KFZ-Werkstätte, sie alle brauchten ihn, damit es ihnen weiter gut ging. Ihre Erwartungen an ihn und ihre Vorstellungen über ihn empfand Kerschenbaum wie ein unsichtbares Netz, das sich immer dann zusammenzog, wenn er ihm entweichen wollte. Vor allem Helena und Scheible waren seine getreuen Spürhunde, die bei jedem Fluchtversuch Witterung aufnahmen, ihn umkreisten und zum weiteren Dasein bekehrten.

Kerschenbaum wusste, dass er alles auf eine Karte setzen musste, auf einen Fluchtweg, den niemand vermuten und keiner vernünftig nachvollziehen konnte. Er entschied sich also, mit aller Vorsicht aus dem Begehren zu scheiden und seine Identität so zu verlieren, dass niemand Verdacht schöpfen konnte. Fluchtwege führen gewöhnlich nach draußen. Der, der flieht, möchte seinen Verfolgern entfliehen, was in denen wiederum den unersättlichen Wunsch entstehen lässt, den Flüchtigen einzufangen. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, der ermüdet und verliert schließlich. Kerschenbaum war zu lebensklug geworden, um mit 72 Jahren diesen seichten Krimi zu spielen. Kein Fluchtort der Welt hätte ihn auf Dauer von Helenas Präsenz befreien können. Hätte er sie zeitweilig abgeschüttelt, sie wäre bald schon in Briefen, Telefonaten, Forderungen erneut zu einer unheimlich aufdringlichen Präsenz auferstanden. Und Scheible hätte sie unterstützt darin, mit Faxen, Flugtickets und Steuererklärungen.

Kerschenbaum ahnte, dass nur der Tod ihn herausretten konnte aus dem unsichtbaren Netz des Begehrens, das ihn seit Jahrzehnten umgab, umlauerte und freundlich umsorgte. Seine Methode, aus dem Begehren zu scheiden, verfolgte also unerbittlich ein Ziel: Totsein für die anderen. Wenn er es dazu brächte, aus dem Freundschaftsspiel des Begehrens als unbrauchbar ausgemustert zu werden, dann wäre er für die anderen wie tot. Die Narrenfreiheit einiger später Lebensjahre jenseits der Bannmeile des Begehrens wollte sich Kerschenbaum unbedingt gönnen. Sein Begehren und seinen Gegenwillen wollte er darauf richten, dieses andere Ufer zu erreichen. Statt Flucht vor den anderen sollte sich seine Persönlichkeit so verflüchtigen, dass er zum wertlosen Schatten seiner selbst wird. Der eigene Schatten ist die beste Tarnung. Kerschenbaums Fluchtweg und Lebensprogramm wurde es also, sich dort genussreich einzurichten, wo ihn niemand mehr vermuten und verfolgen konnte: in seinem eigenen Schatten.

Dazu brauchte er eine ärztliche Diagnose. Nicht eine der üblichen, die bloße Altersbeschwerden widerspiegelt; auch keine solche, die zur Operation führem könnte. Nein, er brauchte eine Passepartout-Diagnose, die er jederzeit wie eine Tarnkappe und allzeit gültige Erklärung auf all sein Verhalten legen könnte. Solche Diagnosen sind selten wie gute Champagnerjahrgänge auf Auktionen. Kerschenbaum liebte Auktionen, hatte als Verleger gelernt, wie man das Preisprofil mitbestimmt und dass gar nichts seinen Preis hat. Preise werden ausgehandelt, situativ bestimmt und was preiswert ist, bestimmt der Markt. Zahlen aber muss man in harter Währung. Kerschenbaum war bereit dazu. Die Diagnose, die er heimlich begehrte, deren Erhalt er provozieren und auch mit seinem Leben bezahlen wollte, lautete: Alzheimer!

Die Alzheimetische Krankheit, der Passepartout für Vergesslichkeit, krankhaften Egoismus und Schuldunfähigkeit. Sie begehrte Kerschenbaum als Diagnose. Unter ihrem Schatten des progressiven Persönlichkeitsverlustes wollte er sich und seine Ansprüche an das Leben bergen. Endlich wird er seine tiefe Gleichgültigkeit allen Menschen gegenüber offen zeigen dürfen. Endlich wird er seinem Ekel vor Helena, ihren schönen Reden und affektiertem Gehabe im Vergessen einen unüberbietbaren Platz einräumen. Die Bedeutungsfelder seines Lebens wird er wie in einer einfachen mathematischen Operation durch die Diagnose "Alzheimer" in Klammer setzen und mit einem unaufhebbaren Minuszeichen versehen. Geflüchtet unter den Schatten dieses Krankheitsbildes wird er sich durch teilnahmsloses Vergessen und leeren Blick an denen rächen, die bisher davon profitierten, dass sein Begehren auf ihr Begehren abgestimmt war. Dessen also war sich Kerschenbaum lustvoll bewusst: Im Schatten der psychiatrischen Diagnose wird er ein neues Leben beginnen. Niemand wird es ihm neiden, keiner ihm entziehen. Selbst Helena wird ihn dort nicht mehr vermuten.

Kerschenbaums Entschluss, auf dem Weg der Alterspsychiatrie und ihrer Diagnostik aus dem Leben zu scheiden, braute sich über mehrere Jahre hin zusammen. Dass es dann schließlich zur Wandlung des Dr. Oliver Kerschenbaum zu dem alzheimerverdächtigen Kerschenbaum kam, dieser ausschlaggebende Moment war eine abendliche Schrecksituation. Sie zu erzählen bzw. zu lesen heißt, einzusteigen in die hintergründige Geschichte einer ultimativen Selbstbefreiung

Der Autor

Erwin Möde, Prof. Dr. D,.ist emeritierter Professor für Theologie (von 2013 bis September 2019 hatte er den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und -psychologie an der Katholischen Universität Eichstätt - Ingolstadt inne; er gilt als guter Kenner der Lacanschen Psychoanalyse.

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