Details

Autor Freud, Sigmund
Herausgeber Molnar, Michael (Hg.)
Verlag Stroemfeld
Auflage/ Erscheinungsjahr 1996, EA
Format 29,7 × 19,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Gebunden, Großformat, mit Lesebändchen
Seiten/ Spieldauer 520 Seiten
Abbildungen Mit zahlreiche Abbildungen, Fotos und Faks.
SFB Artikelnummer (SFB_ID) 3-87877-481-8

Zu dieser Ausgabe

Sigmund Freud führte während der letzten zehn Jahre seines Lebens in Wien und London ein Tagebuch, die sogenannte »Kürzeste Chronik«. Über fünfzig Jahre später, 1996, ist dieses interessante Dokument erstmals auf deutsch in einer gediegen gemachten und kundig vom Forschungsdirektor des Freud-Museums in London Hampstead, Michael Molnar, edierten großformatigen Ausgabe beim Frankfurter Stroemfeld erschienen. Dieser renommierte kulturwissenschaftliche Verlag besteht leider seit 2019 nicht mehr. - Das Archiv der SFB verfügt übr einige wenige verlagsfrische Exemplare dieses Buches.

Pressestimmen

»Das biographische Kaleidoskop, das der Herausgeber anhand dieses Freud-Textes zusammengestellt hat, ist vorzüglich recherchiert. (…) Einen besonderen Genuß bieten die zahlreichen Zitate aus zumeist unveröffentlichten Freud-Briefen … Molnars Werk ist nicht nur ein Buch zum Schmökern, sondern auch ein Bilderbuch. Es sind darin die meisten der im Text erwähnten Antiquitäten Freuds abgebildet, seine Freunde, seine Angehörigen etc. Vor allem wird ein ganzes Album von bisher unbekannten Privatphotos ausgebreitet …« - Michael Schröter, in der taz

Aus der umfassenden Rezension von Sabine Riechebächer in der Neuen Zürcher Zeitung:

Impetus, Raffung dieser Zeilen aus Goethes frühem Gedicht «An Schwager Kronos» (1774) könnten den Rhythmus zur «Kürzesten Chronik» geben: zu den zwanzig Blättern im Folioformat, auf denen Freud in gestochen scharfer gotischer Handschrift seine letzten zehn Lebensjahre protokolliert hat. Goethes Gedicht schildert eine Postchaisenfahrt durchs Gebirge. Die Schilderung der Landschaft wird mit dem Bogen eines Tageslaufs verwoben; beides meint dieselbe Sache: die Lebensreise des Menschen. Die Stationen dieser Reise werden nicht direkt beschrieben, sondern sind in einer ruppigen, auch in der Syntax ungeduldigen Adresse «An Schwager Kronos», an den Zeitgott als Kutscher, enthalten. Wo der Reisende noch Kontrolle über die Arbeit des Kutschers zu behaupten meint, da wird er bereits hingerissen. Und in der raffinierten Verbindung von chronometrischem Lebenslauf und der Veränderung des subjektiven Zeiterlebens des Menschen in verschiedenen Lebensphasen wird auch der Leser von einem Frequenzwechsel im Rhythmus des Gedichtes hingerissen: von einem Moment der Ewigkeit auf dem Gipfel des Berges - des Lebens - in unaufhaltsamer, zielgerichteter Beschleunigung in den Orkus hinab.

Freuds Tagebuch der Jahre 1929 bis 1939 liegt jetzt erstmals vollständig veröffentlicht vor. Wer hier die vertraute, kreative Sprache des Wissenschafters und Schriftstellers Freud erwartet, wird enttäuscht. Die Chronik ist lückenhaft datiert. Die Einträge sind in einer Art sprachlichem staccato gehalten: Namen, einzelne Wörter, kurze Bemerkungen; in der Regel eine einzige Zeile. Die Thematik reicht von Besuchern, Familienangelegenheiten, Krankheiten, Todesfällen, der Erwähnung von Schmuckstücken und Antiquitäten, Publikationen, Übersetzungen und Geldangelegenheiten bis hin zur Politik.

Der Eindruck von Tempo, von Raffung wird durch Freuds graphische Gestaltung der Blätter verstärkt und zugleich rhythmisiert. Der erste Eintrag jedes Monats beginnt mit der Nennung des Datums am linken Blattrand. Bei den folgenden Tageseinträgen wird der Zeilenbeginn jeweils um ein weniges nach rechts verschoben. Ein horizontaler Strich - gleich einem Taktstrich - endigt den Monat. Auf diese Weise wandert jeder Monatsblock quer über das Blatt in der gleichmässigen und strukturierenden Abfolge von Neubeginn und Trennung, von Neubeginn und Trennung: so wie es auch Analysanden in den vier Wochenstunden des psychoanalytischen Settings erleben. Und Freud erschafft sich in der «Chronik» auf diese Weise seine persönliche Ordnung.

Wenn Goethe in seinem Gedicht die Bedeutung des griechischen Wortes chrónos (Zeit) mit Kronos dem Titanen zusammenbringt, so geschieht dies in Verdichtung einer mythologischen Entwicklungsreihe. In Darstellungen des Kronos fährt dieser auf einem vierspännigen Wagen. Er lenkt die eiligen Pferde mit der linken Hand; in der erhobenen Rechten hält er die Sichel. Die Sichel, so wird interpretiert, bedeute, dass die Zeit alles abmähe. Aber die Sichel hat noch eine frühere, mörderische Bedeutung. Indem Kronos mit der linken Hand die Genitalien seines Vaters Uranos packte, schlug er sie ihm mit der steinernen Sichel in der Rechten ab. Aus Angst vor demselben Schicksal verschlang er dann seine eigenen Kinder. Sein Sohn Zeus wurde gerettet und besiegte und verbannte später den Vater. Von Kronos zu Chronos: ein Fortschritt also im Prozess der Zivilisation.

Die «Kürzeste Chronik» beginnt eine Woche nach dem «Schwarzen Freitag», dem Börsenkrach an der Wall Street. Und sie endet genau eine Woche vor «Ausbruch» des Zweiten Weltkrieges. Als Freud am 31. Oktober 1929 den ersten Eintrag macht, ist er 73 Jahre alt, und er hat den mit der Krebsdiagnose 1923 angekündigten Tod innert fünf Jahren bereits überlebt. Ihm verbleiben zehn weitere Jahre. Er verlebt sie, häufig von Schmerzen geplagt und unter ständiger Bedrohung durch den Krebs, dann auch durch eine Herzattacke, im Schatten des Todes. Mitte Oktober 1929 schreibt Freud aus dem Sanatorium Tegel in Berlin: «Die periodischen Unterschiede von Ferien und Arbeitszeit verschwinden bereits bei mir hinter der langsam und stetig fortschreitenden Senkung der Lebenskurve. Ich glaube, ich habe ein Recht auf Ruhe.» Auf politisch-kultureller Ebene dokumentiert die «Kürzeste Chronik» eine Zeit der Verzweiflung. Totalitäre Systeme, Verfolgung und Repression halten grosse Teile Europas im harten Griff. Freud spricht von einer Zeit nahezu «vorgeschichtlicher Barbarei» und des Niedergangs der europäischen Kultur.

Zeitgleich mit dem Beginn des Tagebuches gab Freud eines seiner wichtigsten, meistgelesenen und unter Fachleuten meistdiskutierten Werke in Druck: «Das Unbehagen in der Kultur». In diesem kulturkritischen Essay verknüpft Freud noch einmal die wichtigsten Themen seines Lebenswerks. In düsterer Stimmung, durch viele Zweifel hindurch und mit explizitem Verweis auf die gegenwärtige Zeit entwirft er ein überschattetes Bild des Menschen in seiner Kultur: «Man möchte sagen, dass der Mensch ‹glücklich› sei, ist im Plan der ‹Schöpfung› nicht enthalten.»

Eros und Thanatos
«Das Unbehagen in der Kultur» beschreibt die Entwicklung des Einzelnen, den Kulturprozess sowie die Entfaltung organischen Lebens überhaupt als Streit der Giganten, als einen Kampf zwischen Lebenstrieb und Destruktionstrieb, zwischen dem «ewigen Eros» und seinem ebenso unsterblichen Gegner Tod. Diese Dichotomie des Triebbegriffs ist eigenartig, denn wenn wir den Destruktionstrieb mit dem bösen Prinzip identifizieren, so wie es Mephistopheles in Goethes «Faust» tut, dann wäre die Gegenkraft doch eigentlich das Gute oder das Heilige. Freud verweist: der Teufel selbst schildert die Kraft der Natur zur Mehrung des Lebens, also Eros, als den Gegner: «Der Luft, dem Wasser, wie der Erden entwinden tausend Keime sich ...»

Michael Molnar, umsichtiger Herausgeber und hervorragender Kommentator des Freud-Tagebuches, beschreibt dieses als Fortsetzung oder Schattenbild des «Unbehagens in der Kultur». Dessen zentrales Thema gibt ihm Anlass dazu, die «Chronik» als eine Art Bilanz des Kampfes zwischen Eros und Thanatos zu lesen. Dem Ich in Goethes Gedicht bleibt letzterer Teil erspart. Wohl werden die Leiden des Alters dort drastisch geschildert, doch durchlaufen muss das Ich sie nicht. Der Dichter erlaubt noch einen Moment der Ekstase, und schon ist der Reisende durchs Höllentor hindurch, woselbst er als Fürst empfangen wird. Das Ich hat seinen eigenen Tod verpasst. Vielleicht verfehlt?

Freud blieb die Erfüllung seines Wunsches nach einem ruhigen Lebensabend versagt. Im Zeitraum von 1929 bis 1939 erleidet er allein zwanzig Kieferoperationen. Der Index der Krankheiten, den Molnar erstellt hat, umfasst beinahe zwei Seiten. Neben Körperfunktionsverlust und Beschwerden treten die seelischen Schmerzen und Verluste des Alters. Häufige Kreuzzeichen markieren ebenso viele Tode: von seinen alten Tarockpartnern, von Kollegen, von Freunden und Freundinnen wie Lou Andreas-Salomé, von Feinden wie Alfred Adler; den Herztod seines Hundes Jofi. Als er vor den Nationalsozialisten aus Wien flieht, muss Freud dies in Ungewissheit über Angehörige und Freunde tun. Als er am 6. Juni 1938 in London ankommt, weiss er noch nicht, dass die Prinzessin Marie Bonaparte seine gesamte Habe, die Bücher, die heissgeliebte Antiquitätensammlung, retten wird. In der Emigration wird ihm der Verlust des Deutschen, der Sprache seines Denkens und Fühlens, sehr schwer werden.

Bei allem Schmerz, allem Ungemach gelingt es Freud doch, bis kurz vor seinem Tod ein ausgefülltes und engagiertes Leben zu leben. Er wird in einem Beziehungsnetz von Familienangehörigen, Freunden und Kollegen gehalten. Sofern sein Gesundheitszustand es erlaubt, empfängt er Besuche und bleibt ein engagierter Briefschreiber. In den zehn Jahren, die von der «Chronik» dokumentiert werden, entstehen weitere Publikationen, darunter die «Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse» (1932) und das eigentliche Spätwerk «Der Mann Moses und die monotheistische Religion» (1937).

Die grosse Leidenschaft dieser späten Jahre Freuds ist seine Antiquitätensammlung. Molnar hat dies sehr schön herausgearbeitet. Eine seiner Trouvaillen sind die - Molnar meint: zufälligen - Namen von Freuds Antiquitätenhändlern. Fröhlich, Lustig, Glückselig - diese Namen können auch wegweisend verstanden werden für das, was Freud in seinen antiken Statuen, Objekten und Vasen suchte und fand.

Dass sein Werk keine öffentliche Anerkennung erhielt, das blieb für Freud zeitlebens ein steiniges Thema. «Im Nobelpreis übergangen», lautet der allererste Eintrag der «Chronik». Im folgenden Jahr heisst es bitter: «Im Nobelpreis endgiltig ubergangen.» Doch auch eine grosse Freude wird Freud in diesen Jahren zuteil. Ende Juli 1930 erhält er die Mitteilung, dass die Stadt Frankfurt ihm den Goethe-Preis zuerkannt hat.

In seiner Dankesrede, die Tochter Anna an der Feier vorliest, geht Freud auf die Bedeutung der ersten Beziehung des Kindes für die Entfaltung von Begabung und Kreativität ein. Dieses Thema hat Freud wiederholt beschäftigt. In seiner Goethe-Studie «Eine Kindheitserinnerung aus ‹Dichtung und Wahrheit›» (1917) vergleicht sich Freud, selber der Erstgeborene und Liebling seiner Mutter, mit Goethe. «Ich bin ein Glückskind gewesen», heisst es da. Doch ob Freud sich selber als «Hans im Glück» erlebt hat, wie Molnar ihm das nahelegt und ihm das ja auch wünscht? Wer wagt zu wägen? Dass auch Freud ein sorgsamer Verhüller war, das lässt er Anna am Ende der Dankesansprache zuhanden Goethes und mit Mephistos Worten sagen: «Das Beste, was du wissen kannst, / Darfst du den Buben doch nicht sagen.»

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