Details

Autor Dybel, Pawel
Verlag Königshausen u. Neumann
Auflage/ Erscheinungsjahr 07.2016
Format 23,5 × 15,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 292 Seiten
Gewicht 550
ISBN 9783826059841

Nach Auffassung des polnischen Philosophen und Soziologen Pawel Dybel meint Psychoanalyse das Wissen vom Unheimlichen im Menschen; sie verfügt und bedient sich einer Erkenntnisweise, welche den Rahmen der Wissenschaft jeder anderen Art grundhaft überschreitet.

Die Aufsätze dieses Buches versammeln Arbeiten des Autors, welche dieser ab den neunziger Jahren in den Zeitschriften Psyche, Psychoanalyse im Widerspruch, Texte und in verschiedenen Sammelbänden veröffentlicht hat. Jetzt ist der bedeutende Beitrag des polnischen Autors zu einer der Selbstaufklärung des Menschen verpflichteten Psychoanalyse mit diesem Band aus dem Verlag Königshausen & Neumann auch deutschsprachigen Lesern leicht und gut zugänglich.

Zu diesem Buch

Pawel Dybel erörtert im Buch die einzelnen Aspekte der psychoanalytischen Theorie Freuds im breiteren philosophischen, literaturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Zusammenhang. Sein besonderes Interesse gilt der Frage nach der Schlüsselstellung des Phänomens der Melancholie in dieser Theorie. Er reflektiert auch über das Konzept des Subjekts und der Sprache in den frühen Schriften Freuds, indem er es mit der Begrifflichkeit der Philosophie Kants und Herders konfrontiert. Das Buch endet mit der Frage nach dem wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse.

Das Buch wird eröffnet durch den Essay Unterbrochene Wege, welcher über die dramatische Geschichte der Psychoanalyse in Polen informiert. Viel Platz wurde auch dem interessanten deutsch-polnischen Schriftsteller und Vertreter der Berliner fin de siecle-Literatur, Stanislaw Przybyszewski, eingeräumt. Eine besondere Stellung nimmt der Essay über Lacans Interpretation von Hamlet ein, in dem Dybel auf die hermeneutische Implikationen dieses Versuchs hinweist.

Inhalt

Vorwort 7

UNTERBROCHENE WEGE.
Die Geschichte der Psychoanalyse in Polen 15

TEIL I

  • 1. VERGÄNGLICHKEIT DES SCHÖNEN UND MELANCHOLIE BEI FREUD: Bemerkungen zu Freuds Essay Vergänglichkeit 43

  • 2. DAS MASKENSPIEL DES MELANCHOLIKERS: Das Konzept der Melancholie bei Freud 61

  • 3. DAS DOPPELGESICHT DER MELANCHOLIE Freuds Beitrag zur präödipalen Melancholie und gender Melancholie bei Butler 83

TEIL II

  • 1. DER MENSCH ALS NEURONENMASCHINE Das Konzept des „psychischen Apparats" im Entwurf einer Psychologie Freuds und das Ich der transzendentalen Apperzeption bei Kant 97

  • 2. AUF DER SPUR DES UNBEWUSSTEN Das Konzept der Sprache vor der Sprache bei Herder und Freud 125

  • 3. FREUD UND JASPERS - Zwei psychologische Hermeneutiken 143

  • 4. SEGAL UND DILTHEY - Hermeneutische Implikationen im Konzept derkünstlerischen Kreativität von Hanna Segal 157.

TEIL III

  • 1. DIE KRANKHEIT ALS FORTSCHRITT -  Stanislaw Przybyszewski's dekadente Geschichtsphilosophie 167

  • 2. DAS TOTE GESCHLECHT UND DAS LEIDEN DES MODERNEN KÜNSTLERS - Ödipale Motive in Totenmesse von Stanislaw Przybyszewski 197

  • 3. LACANS DEUTUNG DES BEGEHRENS IN SHAKESPEARES HAMLET - Ein Beispiel der „negativen" Hermeneutik? 217

Anhang - DAS WISSEN VOM UNSINN

  • Die Frage nach dem wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse 243

Aus dem Vorwort des Autors

"Vom Beginn an war die Frage des wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse der Gegenstand heftiger Kontroversen. Freud selbst und seine Anhänger haben in der Psychoanalyse eine naturwissenschaftliche Disziplin gesehen, die eine feste empirische Grundlage hat. Nun aber konnte Freuds Bild des menschlichen Seelenlebens, das in zwei entgegengesetzte und im ständigen Konflikt begriffene Instanzen, das Bewusstsein (Vorbewusstsein, das Vorbewusste) und das Unbewusste, aufgeteilt wurde, den methodischen Anforderungen der Naturwissenschaften nicht genügen. Dabei bestand die durch Freud vorgeschlagene Technik der Therapie, in der die Interpretation der Träume, der Fehlleistungen und der Symptome eine zentrale Position hatte, hauptsächlich aus den Elementen des methodischen Vorgehens der Geisteswissenschaften.

Auch passte die Uberzeugung Freuds, dass im Verlauf der analytischen Therapie das bewusste und unbewusste Selbstverstehen des Patienten gründlich „verarbeitet" werden sollen in die Methodik der Naturwissenschaften nicht ganz hinein. Der Patient sollte ja im Verlauf der Therapie dazu gebracht werden, über seine Vergangenheit zu reflektieren und sein Verhältnis dazu zu verändern. Damit sollte auch sein Verhältnis zu dem sozialen Kontext, in dem er aufgewachsen ist, verwandelt werden. All das waren die Momente des Therapieprozesses, die empirisch schwer verifizierbar waren.

Aus diesem Grunde war - und ist - der wissenschaftliche Status der Psychoanalyse in den Augen der (meisten) Naturwissenschaftler und Philosophen der Wissenschaft höchst fragwürdig. Denn wie kann man empirisch die Verwandlung des Selbstverstehens des Patienten verifizieren und aufzeigen, dass daraus die Fortschritte in seiner Therapie resultieren? Wie kann man beweisen, dass die reflexive Verarbeitung einer Szene aus der Vergangenheit durch den Patienten das Verschwinden seiner Symptome zur Folge hatte? Nicht weniger problematisch ist es aber zu beweisen, dass die Interpretation der Symptome des Patienten durch den Analytiker falsch ist. Von der Perspektive der empirisch orientierten Forschung bewegt man sich hier auf einem sumpfigen Boden in Bezug worauf alle als verbindlich geltenden wissenschaftliche Prozeduren versagen. Kein Wunder, dass die Forscher, die diese Methodik als allgemein verwendbar betrachteten, die Voraussetzungen der psychoanalytischen Theorie Freuds scharf kritisiert haben. Immer noch werden jedes Jahr ein paar Bücher publiziert, deren Autoren stolz ankündigen, sie hätten all die Schwächen dieser Theorie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bloßgelegt und ihren therapeutischen Wert zu Nichte gemacht. Gleichzeitig erscheinen aber jedes Jahr Bücher, deren Autoren darauf hinweisen, dass Freuds Werk bis heute für die einzelnen Geisteswissenschaften und die Philosophie eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration darstellt.

Dieser Streit resultiert heute daraus, dass die Psychoanalyse, sowohl als Theorie des menschlichen Seelenlebens, als auch Therapiemethode nicht auf die enge Formel der Wissenschaftlichkeit, die in den empirisch orientierten Wissenschaften obwaltet, zurückführbar ist. Sie ist vor allem eine besondere Art des Wissens vom Unbewussten im Menschen und in der Kultur, welches der Analytiker durch Jahre in „Gesprächen" mit den Patienten gewinnt. Dieses Wissen verlangt von ihm die Fähigkeit, diese Gespräche nach spezifischen Regeln zu führen, die im Alltagsleben nicht auftreten. Denn es geht hier nicht nur darum, dem Patienten aufmerksam zuzuhören und ihm fachmännische Interpretationen seiner Träume und Symptome anzubieten, sondern ihm durch diese Interpretationen zu „heilen". Diese sonderbare Fähigkeit und dieses Wissen gewinnt der Analytiker nach Jahren der therapeutischen Praxis, in der er ständig mit den Worten der Patienten konfrontiert wird -und vor allem mit dem, was verschwiegen wird - darüber reflektiert und oftmals dabei über sich selbst reflektieren muss.

Aus diesem Grunde lässt sich das psychoanalytische Wissen als das Wissen vom Menschen und seiner Kultur nicht auf eine einfache Formel der Wissenschaft, deren Forschungsbereich klar und eindeutig identifizierbar ist, zurückführen. Das ist kein typisches „psychologisches" oder „psychiatrisches" Wissen, sondern es ist von seinem Wesen aus interdisziplinär. Das Besondere dieses Wissens ist seine Positionierung im Schnittpunkt der verschiedenen wissenschaftlichen Gebiete, auf die es geöffnet ist. Kein Wunder also, dass das methodische Vorgehen und die Erkenntnisse der Psychoanalyse vor allem durch die Wissenschaftler und Philosophen immer wieder kritisiert werden, die in ihr gerne einen Zweig der Naturwissenschaft sehen würden. Diese Erwartung steht aber im krassen Widerspruch mit dem „flüssigen" und heterogenen Charakter des psychoanalytischen Wissens, das sowohl die psychologischen und psychiatrischen, als auch die soziologischen, anthropologischen, kulturwissenschaftlichen, philologischen und philosophischen Elemente enthält.

2.
Mit dem interdisziplinaren Status des psychoanalytischen Wissens korrespondiert der heterogene Charakter der Artikel in diesem Buch, die meistens im Schnittpunkt der Psychoanalyse und der Philosophie, bzw. der Psychoanalyse und der Literaturwissenschaft, liegen. Im einführenden Essay Unterbrochene Wege verfolge ich die verwickelte und tragische Geschichte der polnischen Psychoanalyse im 20 Jahrhundert, indem ich sie auf die Prozesse der jüdischen Assimilation im Mittel- und Osteuropa um 1900 und die progressiven Tendenzen im Milieu der polnischen Arzte und Psychologen beziehe. Das erste eindrucksvolle Zeugnis des Interesses für Psychoanalyse in diesen Kreisen waren zwei Tagungen der polnischen Neurologen, Psychiater und Psychologen, an denen Ludwig Jekels, Herman Nunberg, Jan Nelken, Luise von Karpinska u.a. Vorträge über die einzelnen Aspekte der Psychoanalyse Freuds und Jungs gehalten haben. Die erste Tagung fand 1909 in Warschau statt, die zweite 1912 in Krakau). In der Zwischenkriegszeit waren die psychoanalytischen Theorien nicht nur unter den Ärzten, sondern auch unter den Pädagogen, den Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern verbreitet. Während des Zweiten Weltkrieges sind fast alle jüdisch-polnische Analytiker in Ghettos und Konzentrationslagern ermordet worden. Die Wenigen, die überlebt haben, sind gleich nach dem Krieg gestorben und hatten keine Nachfolger. Auch wenn es sie gegeben hätte, wäre es für sie unmöglich, die Psychoanalyse als therapeutische Methode zu praktizieren. Das kommunistische Regime im Nachkriegspolen betrachtete die Psychoanalyse als „bürgerliche Wissenschaft" und hat sie verboten.

Der erste und zweite Teil des Buches bestehen aus den Essays, die sich zwischen Psychoanalyse und Philosophie bewegen: Ich gehe davon aus, dass manche Konzepte und Denkmotive, die in Schriften Freuds auftauchen, eine Herausforderung für die traditionelle philosophische Begrifflichkeit darstellen. Im ersten Teil beziehe ich mich auf Freuds Texte über Melancholie, in denen er auf den janusköpfigen Charakter dieses seelischen Phänomens aufmerksam macht. Melancholie ist für ihn - ähnlich wie für Aristoteles - eine sonderbare seelische Erscheinung, die sowohl zur depressiven Lähmung der Seele führen, als auch die Quelle der menschlichen Kreativität sein kann. Meine Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang dem schönen Essay Freuds Vergänglichkeit. Freud erzählt hier von seinem Spaziergang mit dem „bekannten Dichter", dessen melancholische Stimmung ihn dazu veranlasste, nach den Spuren der während der Kriege zerstörten Kulturgüter, Denkmale, Meisterwerke der Architektur, Texte usw. im menschlichen Gedächtnis zu fragen. In meiner Analyse weise ich darauf hin, wie ungewöhnlich Freuds Antwort auf diese Frage lautet. In anderen Texten erörtert Freud das Phänomen der Melancholie im Kontext der sexuellen Konstitution des Menschen, wobei er auch die geschlechtliche Differenz berücksichtigt. Seine Auffassung wurde zum Ausgangspunkt der scharfen Kontroverse im Rahmen der feministischen Bewegung, was ich am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Julia Kristeva und Judith Butler präsentiere.
Den zweiten Teil eröffnet ein Aufsatz in dem ich mich auf die Auffassung der Genealogie des Ich im Freuds frühen Text Entwurf einer Psychologie beziehe. Ich konfrontiere diese Auffassung, der das Konzept des allen Bewusstseinsakten vorangehenden „primären Prozesses" zugrunde liegt mit dem Konzept des Ich der transzendentalen Apperzeption Kants in der Kritik der reinen Vernunft, die auf den Bereich des Bewusstseinslebens beschränkt ist. An diesem Beispiel kann man verfolgen, inwiefern Freuds Annahme des „primären Prozesses" - später des Unbewussten - eine Herausforderung für die traditionellen philosophischen Konzepte des menschlichen Seelenlebens war, in denen es mit den bewussten Erlebnissen gleichgesetzt wurde.

Im Essay Die Sprache vor der Sprache beziehe ich mich auf die Bemerkungen von Johann G. Herder bezüglich der „freien" Sprache der Träume in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Sie haben zwar einen sehr allgemeinen Charakter, sind aber in Bezug auf Freuds Traumdeutung in vieler Hinsicht wegbereitend. Das ist insofern erstaunlich, als die Veröffentlichungen der beiden Bücher mehr als einhundert Jahre auseinander liegen. Einen ganz anderen Charakter hat der Text, in dem ich die in Freuds psychoanalytischer Theorie enthaltenen hermeneutischen Momente mit dem durch Jaspers in der Allgemeinen Psychologie skizzierten Projekt der „verstehenden Psychologie" vergleiche. Den „philosophischen" Teil des Buches schließt der Essay ab, in dem ich die psychoanalytische Ästhetik von Hanna Segal mit dem Psychologismus der Hermeneutik von Wilhelm Dilthey konfrontiere. Ich mache darauf aufmerksam, dass das psychoanalytische Konzept des menschlichen Seelenlebens, das Segal von Melanie Klein übernommen hat und das ihrem ästhetischen Denken zugrunde liegt, ihr erlaubt, den Vorgang der künstlerischen Kreativität viel komplexer als Dilthey aufzufassen.

Den dritten, „literaturwissenschaftlichen" Teil eröffnen zwei Essays über das frühe deutschsprachige Werk des polnischen Schriftstellers, Stanislaw Przybyszewski, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die führende Persönlichkeit Berliner Boheme war. Ich verfolge in ihnen die psychoanalytischen Motive, die in diesem Werk zu finden sind. Im ersten Essay beschäftige ich mich mit Przybyszewskis eigenartiger Mythologie „der nackten Seele" des modernen Künstlers, und im zweiten analysiere ich die Voraussetzungen seiner dekadenten Philosophie der Geschichte. Einen besonderen Platz nimmt in diesem Teil das Kapitel ein, in dem ich mich auf Jacques Lacans Deutung des Begehrens von Hamlet beziehe, die er in seinem Seminar Le desir et son Interpretation vorgeschlagen hat. Meine These lautet, dass diese Deutung, die auf den ersten Blick „poststrukturalistische" Züge hat, in der Tat eine Art der „negativen Hermeneutik" darstellt. Denn das Problem, das nach Lacan Hamlet mit seinem blockierten Begehren hat, ist mit der Krise seines Selbstverständnisses verbunden.

Im letzten Kapitel des Buches greife ich die Frage des wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse wieder auf, die hier schon am Anfang angedeutet wurde. Ich weise auf vier wissenschaftliche und philosophische Traditionen hin, in denen die Theorie Freuds und seiner Nachfolger unterschiedlich interpretiert und fortgesetzt wurde. In der ersten wurde sie als eine naturwissenschaftliche Theorie betrachtet und oftmals dafür kritisiert, dass sie den Bedingungen der empirischen Verifizierbarkeit ihrer Erkenntnisse und Konzepte nicht entspricht (Karl Popper, Ludwig Wittgenstein, Adolf Grünbaum u.a.); in der zweiten Tradition hat man in ihr eine besondere Art der Hermeneutik gesehen (Ludwig Binswanger, Paul Ricoeur, Alfred Lorenzer); in der dritten hat man versucht, sie mit den phänomenologischen und existentialen Konzepten zu
vermitteln (Medard Boss, Jean Paul Sartre, Viktor von Frankl u.a.); in der vierten betonte man die überraschenden Analogien zwischen der Freudschen Analyse der sprachlichen Strukturierung von Fehlleistungen, Träumen und Symptomen und den strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien der Sprache (Louis Althusser, Jacques Lacan, Jean Laplanche, Jacques Derrida).

Letzten Endes gehen aber diese Auseinandersetzungen, Interpretationsvorschläge und Fortsetzungen der Freudschen Lehre an dem Bild des Menschen, das ihr zugrunde liegt, vorbei. Gemäß diesem Bild ist der Mensch ein triebhaftes Wesen, dessen Triebe -sowohl die sexuellen als auch die Todestriebe - eigentlich auf die „sinnlose" Erfahrung des Ubermaßes der Lust ausgerichtet sind, was in der durch Instinkte determinierten Tierwelt nie vorkommt. Dieses Bild des Menschen, der zwischen seiner Vernunft (ratio, cogito, das Selbstverstehen, das Ich, Uber-Ich usw.) und den Trieben aufgespaltet ist, wobei letztere nur ihr eigenes Ziel verfolgen (die Erfahrung der Lust als Ziel an sich), stellt alle anthropologischen Konzepte, die bisher in der Philosophie und der Wissenschaft als verbindlich galten, in Frage. Auf der Grundlage dieses Menschenbildes wäre es unmöglich, eine kohärente Wissenschaft vom Menschen aufzubauen.
Das den Trieben eigene Streben zum „Ubermaß" der Lust macht aus dem Menschen das Wesen, das zu Grausamkeiten fähig ist, die man durch keine natürlichen und kulturellen Gesetze erklären kann. Der Mensch ist nicht das grausamste Tier, wie Darwin meinte. Er ist ein Wesen, dessen Grausamkeit nicht aus dieser Welt ist. Infolgedessen bezieht sich das Wissen vom Menschen auf etwas, das man überhaupt nicht objektivieren und „verstehen" kann und was Freud mit dem Begriff des Unheimlichen bezeichnet hat. Psychoanalyse ist ein Wissen vom Unheimlichen im Menschen, das in den Worten des Patienten während der Psychoanalyse (und in seinem Verschweigen) auf verschiedene Weise verkappt zum Vorschein kommt. So kommt der Patient in seinem Sprechen und Handeln an die Grenzen des Menschlichen, die nicht „wissenschaftlich" mittels der Begriffe erfasst, sondern nur „frei" gedeutet werden können. Das ist dann die Aufgabe des Analytikers, der in seiner Praxis mit dieser Erfahrung der Grenzen des Menschlichen im Sprechen des Patienten ständig konfrontiert wird. Er soll diesem Sprechen entgegenkommen und es „interpretieren", indem er in ihm permanent etwas erkennt, was im Menschen selbst unmenschlich ist.

Die Aufsätze dieses Buches habe ich ab den neunziger Jahren in den Zeitschriften Psyche, Psychoanalyse im Widerspruch, Texte und in verschiedenen Sammelbänden veröffentlicht. Sie sind größtenteils das Ergebnis der Diskussionen mit deutschen und polnischen Kollegen, bei denen ich mich hier herzlich bedanken möchte. Besonders dankbar bin ich für die Bemerkungen zu den einzelnen Texten von Hermann Lang, Gerda Pagel, Ewa Kobylinska-Dehe und Dieter Flader."

Pawel Dybel

Der Autor

Pawel Dybel ist Professor am Institut für Philosophie und Soziologie an der Pädagogischen Universität in Krakau. Sein Forschungsgebiet sind u. a. Hermeneutik, psychoanalytische Theorie und Poststrukturalismus. Mehrere Aufenthalte als Gastprofessor an Universitäten in Deutschland, Großbritanien und in den Vereinigten Staaten. Dybel ist Autor zahlreicher Bücher (Auswahl): Freuds Traum über die Kultur, Warschau 1995; Die Grenzen des Verstehens und der Interpretation. Über H.G. Gadamers Hermeneutik, Krakau 2004; Das Rätsel des „anderen Geschlechts“. Der Streit um die sexuelle Differenz in der Psychoanalyse und im Feminismus, Krakau 2006.

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