Details

Herausgeber Hegemann, Carl (Hg.)
Verlag Alexander
Auflage/ Erscheinungsjahr 07.2000
Format 11,5 × 14 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 154 Seiten
Abbildungen Mit 24 farb. Abb.
Gewicht 146
ISBN 9783895810572

Zu dieser Publikation

Der vorliegende Band dokumentieret Ergebnisse der seit Januar 2000 monatlich in der Volksbühne Berlin stattfindenen Veranstaltungreihe »Kapitalismus und Depression« und ist zugleich das Programmbuch zu Frank Castorfs Inszenierung »Endstation Amerika« .

Die Autoren des ersten Bandes sind der Feuilletonredakteur Mark Siemons ("Kleine Ethnologie der Ratlosigkeit"), der Ethnologe Thomas Hauschild ("Kulturgeschichte des Kotzens"), der Philosoph Boris Groys ("Der Verdacht ist das Medium"), der Soziologe Alain Ehrenberg ("Die Müdigkeit, man selbst zu sein"). Im Anhang (“Die Überlegenheit vierteiliger Modelle”) finden sich kurze Texte von Johann Gottlieb Fichte, Andy Warhol, Carl Hegemann und Diedrich Diederichsen. Die Texte und Thesen beschäftigen sich mit dem individuellen Desaster im fortgeschrittenen Kapitalismus, - sie bieten keine Fluchtwege, aber ungewöhnliches Diskussionsmaterial und überraschende Denkansätze.

Aus dem Inhalt

Vorwort

  • I. Verwahlosung
    Kleine Ethnologie der Ratlosigkeit von Mark Siemons
  • II. Lebensgier
    Beiträge zur Kulturgeschichte des Kotzens von Thomas Hauschild Exkursion
  • EXPO 2000
    LSD-Bilderdienst/Lenore Blievernicht und Bert Neumann
  • III. Paranoia
    Der Verdacht ist das Medium von Boris Groys
  • IV. Depression
    Die Müdigkeit, man selbst zu sein von Alain Ehrenberg

Anhang:
Die Überlegenheit vierteiliger Modelle

  1. Johann Gottlieb Fichte
  2. Andy Warhol
  3. Carl Hegemann
  4. Diedrich Diederichsen

Die Autoren / Tennessee Williams

Aus dem Vorwort

"Jeder ist für seine Wahrheiten selbst verantwortlich. Übergeordnete Wahrheiten und allgemeine Glaubensüberzeugungen erodieren in unserer Gesellschaft immer schneller, allenfalls das Geld behauptet noch die Dignität der alten Metaphysik. Diesem Prozeß der Verwahrlosung steht das Leben gegenüber. Die Wahrheiten schwinden, aber das Leben bleibt. Unser individuelles, zerbrechliches, für jede Bestimmung offene und einmalige Leben ist der Kern, um den sich alles dreht. Die Konsequenz der Verwahrlosung ist Lebensgier. Man stürzt sich ins Leben und will seinen Teil vom Kuchen. Den aber bekommt man nicht. Oder er ist zu klein. Was steckt dahinter? Die unerfüllte Sehnsucht nach einem erfüllten Leben ruft Paranoia hervor. Dunkle Machen-schaften, Lüge und Manipulation, verhindern das richtige Leben. Irgendjemand, ein Mensch, eine Organisation, ein System hat es auf mich abgesehen und pfuscht in meinem Leben herum. Bei genauerem Hinsehen allerdings stellen wir fest: wir selbst sind schuld an dieser Misere. Denn in der „Neuen Ökonomie" und in den Zeiten der Verwahrlosung ist jeder für seine Wahrheit selbst verantwortlich, jeder sein eigener Unternehmer, frei und selbstbestimmt, von keiner höheren Wahrheit oder Lüge beschränkt. Wir sind es, die versagen, die nicht in der Lage sind, diese neue Freiheit zu nutzen. Andere schaffen es, und wenn es nur einer von Tausenden ist.

Diese Einsicht führt geradewegs in die Depression und in die Krise, privat und ökonomisch. Nichts geht mehr. Wie sagte Brian Massumi? „Das individuelle Leben ist eine serialisierte kapitalistische Miniaturkrise, ein Desaster, das Deinen Namen trägt:' Tennessee Williams' Theaterklassiker „Endstation Sehnsucht", uraufgeführt 1942 ist ein früher uramerikanischer Beleg für diese Diagnose. Er stellt die Frage, wieviel Lüge und Selbst-täuschung nötig sind, um das Desaster zu ertragen, dessen Koordinaten Verwahrlosung und Lebensgier, Paranoia und Depression auch hier schon den Rahmen bilden. Es gibt keine Sicherheit und keine Erfüllung, haltbar ist nur die Sehnsucht -und die Liebe, sofern sie unglücklich bleibt. Niemand kommt da lebend raus. Das gilt für Blanche DuBois, die traumatisierte Lehrerin, die in eine filigran mit der Realität verknüpfte Traumwelt flüchtet, weil sie die Realität pur nicht ertragen kann, genauso wie für das „Tier" Stanley Kowalski, der sich buchstäblich durchschlägt nach der Devise: „Glück ist, daran zu glauben, daß man Glück hat!" Das gilt genauso für ihre Schwester Stella, die sich in ihrer Abhängigkeit von Stanley häuslich eingerichtet hat, und auch für Mitch, Stanleys schüchtern unbe-holfenes alter ego. Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, Männer kurz vor dem Delirium. Den Hintergrund des kleinbürgerlichen Krisenzusammenhangs bilden alltägliche Bandenkriege vor der Haustür und allnächtliche Pokerrunden zuhause.[...]"

Über den Herausgeber

Carl Hegemann, geb. 1949 in Paderborn, studierte 1969–1978 Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main. Nach der Promotion unterrichtete er dort zehn Jahre Philosophie und Soziologie. 2004/2005 war er Gastprofessor an der HdK Karlsruhe und 2006–2014 Professor für Dramaturgie an der HMT »Felix Mendelssohn Bartholdy« in Leipzig. Seit 1979 arbeitet Hegemann an zahlreichen Theatern und Opernhäusern, darunter das Tübinger Zimmertheater, das Burgtheater Wien, die Bayreuther Festspiele, die Schauspielhäuser in Freiburg, Bochum, Köln, Zürich und Hamburg, die Staatsopern in Berlin und Hamburg sowie das Opernhaus in Manaus, Brasilien. Nach dem Tod von Heiner Müller war er 1996–1998 Ko-Intendant am Berliner Ensemble. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter der Leitung von Frank Castorf war er 1992–2017 insgesamt 15 Jahre engagiert, zuletzt 2015–2017 als Chefdramaturg. Dort entstanden auch prägende Arbeitszusammenhänge mit Christoph Schlingensief, René Pollesch, Herbert Fritsch und Bert Neumann. Hegemann unterrichtet u. a. an den Kunstuniversitäten in Wien und Berlin. Zuletzt arbeitete er mit Frank Castorf, Jette Steckel und Christoph Marthaler. 2018 gründete er die dramaturgische Beratungsagentur »Everyday live«.

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