Details

Herausgeber Burckas, Cristina C. (Hg.)
Verlag VISSIVO
Auflage/ Erscheinungsjahr 12.2018
Format 21 × 15 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 154 Seiten
ISBN 9783038460572

Zu diesem Buch

Was die Eltern nicht sagen können, ist in der Regel das, was das Kind am meisten interessiert. Dazu kommt: Nicht alles ist sagbar. Wenn wir sprechen, bleibt uns immer etwas entzogen: Eine Leerstelle, die zur Deutung einlädt und somit erlaubt, dass Neues aufkommen kann.

Wir leben in einer Welt, in der es kaum noch Raum für unerfüllte Wünsche zu geben scheint, in der das gesprochene Wort zunehmend zugunsten der visuellen Medien in den Hintergrund gerät und unbeantwortete Fragen mit einer Wissenschaft kollidieren, der man eine Antwort auf alles unterstellt. Wie wirkt sich dies auf die Transmission aus? Inwiefern könnte die allgemeine Desorientierung, die sich bei vielen Jugendlichen heute bemerkbar macht, darauf verweisen, dass die Transmission von einer Generation zur anderen nicht mehr in Funktion ist?

Die in dieser Publikation zusammengetragenen Texte stammen von Analytikern und Vertretern unterschiedlicher Disziplinen aus Deutschland, Frankreich und Luxemburg. Im Rahmen einer Tagung im Centre Culturel Franco-Allemand Karlsruhe haben sie sich zu obigen Fragestellungen Gedanken gemacht.

Aus der Einleitung der Herausgeberin

"Der vorliegende Band fasst die Ergebnisse einer Tagung zusammen, welche 2014 im Centre Culturel Franco-Allemand Karlsruhe unter dem Titel "Die Transmission und das Unsagbare" stattfand. Der Tagung ging ein Projekt voraus, welches an drei verschiedenen Schulen durchgeführt wurde. Anlass zu diesem Projekt war ein kleines Buch, Pages de Garde, lebendiges Zeugnis der Effekte, welche ein in der Generation der Väter erlebtes Trauma jenseits der Worte auf die nächste Generation ausüben kann. Seine Autorin: Pascale Lemler.

Obwohl auf Grund der realen Dimension des väterlichen Traumas nicht sagbar, jedoch von der Tochter vernommen, gelang es der Autorin, die Spuren des Vernommenen zu einem Text zu verarbeiten und Worte zu finden, die über das Loch hinausweisen, welches das in der vorangehenden Generation erlittene Grauen hinterließ - über das Loch des Realen. Denn das Grauen entzieht sich der Sprache: Eine direkte Konfrontation mit dem Trauma lässt verstummen. Ohne Worte besteht die Gefahr, dass das Trauma als „schwere Last“an die folgende Generation weitergegeben wird. Um sich von dem von den Vorfahren erlebten Trauma lösen zu können, braucht es Worte. Worte lassen Distanz aufkommen. Ebenso braucht es Worte, damit die Dynamik der Transmission weitergehen kann. Das Wesentliche dabei ist nicht das „Was“, sondern „wie“ überliefert wird, die Art und Weise, in der sich der Akt der Transmission von Generation zu Generation wiederholt. Wenn Worte fehlen, z. B. auf Grund der Unsäglichkeit des Traumas, müssen diese erst erschaffen werden. In diesem Fall in Form einer poetischen Prosa. Indem die Tochter der Autorin, Sabine Lemler, die Worte der Mutter (Pascale Weill Lemler) aufgegriffen und über Stimme und Ton zu einer mise en voix verarbeitet hat, entstand eine Sequenz, die den Akt der Transmission darstellt. Eine Sequenz, ausgehend von einer poetischen Prosa, die die Transmission auf der Ebene der Generationenfolge jenseits jeglicher Form von Hass, Anklage oder Schuld wieder herzustellen vermag.

Der Wunsch kam auf, diese Erfahrung zu übersetzen. In eine andere Sprache, in eine andere Kultur – hinüber-zu-setzen, über den Rhein, nach Deutschland. Zusammen mit meinen Kollegen Daniel Lemler (Straßburg) und André Michels (Luxemburg) haben wir daraufhin ein Projekt entwickelt, welches der Frage nachgehen sollte, wie in den Familien die Geschichte des XX. Jahrhunderts, die in der Shoah kulminierte, an die dritte und vierte Generation überliefert worden war, und in welcher Form sich dies ausdrückte. Was konnte die heutige Generation darüber sagen? Um dies zu erkunden, wurden insgesamt drei Schulen in Deutschland, Frankreich und Luxemburg aufgesucht.

Im Verlauf des Projekts stellten wir fest, dass die Schwierigkeiten und Blockaden, auf die wir stießen, nicht nur damit zusammenhingen, wie jene Zeit in der Familie überliefert worden war. Das Problem war vielmehr die Transmission als solche; Kenntnisse über die eigene Her-kunft schienen oft nicht über die Generation der Eltern hinauszugehen. Aus diesem Grunde beschlossen wir, das Thema umfassender zu gestalten, und zwar in Form einer Tagung mit dem Titel: Die Transmission und das Unsagbare - Wie sprechen die Eltern über das, was sie nicht sagen können?

Das, was die Eltern nicht sagen können, ist in der Regel das, was das Kind am meisten interessiert. Dies liegt nicht daran, dass die Eltern etwas Bestimmtes nicht sagen wollen, sondern an der Struktur der Sprache als solcher. Nicht alles ist sagbar. Wenn wir sprechen, bleibt uns immer etwas entzogen: Eine Leerstelle, die zur Deutung einlädt und somit erlaubt, dass Neues aufkommen kann.

Dies ist das Gesetz der Sprache. Es ist gleichzeitig das Gesetz, auf dem die menschliche Gesellschaft gründet, und welches von Generation zu Generation überliefert werden muss, damit das menschliche Leben menschlich bleibt und die Kultur weitergehen kann.

Dass die Eltern nicht alles sagen können, dass sie nicht auf alles eine Antwort haben, öffnet einen Raum für das Unsagbare, das einen jeden vor seine Ver-antwortung stellt. Es erlaubt ihm, die Geschichte, die ihm vorausgeht, zu seiner eigenen zu machen, indem er eine neue Version davon schafft und auf diese Weise einen Platz in der Generationenreihe findet. Gleich einer Frage, die ohne Antwort bleibt, wird die Trans-mission so zu einer Aufgabe, die sich jeder Generation von neuem stellt.
In einer Zeit tiefgreifender Veränderungen der traditionellen Familienstrukturen ist die Frage, wie die Eltern über das sprechen, was sie nicht sagen können, eine zusätzliche Herausforderung. Hinzu kommt, dass die Rolle der kulturellen Institutionen, welche bisher wichtige Träger der Transmission waren, zunehmend an Relevanz verliert. Wir leben in einer Welt, in der es kaum noch Raum für unerfüllte Wünsche zu geben scheint, in der das gesprochene Wort mehr und mehr zugunsten der visuellen Medien in den Hintergrund gerät und unbeantwortete Fragen mit einer Wissenschaft kollidieren, der man eine Antwort auf alles unterstellt. Das heißt, eine Welt ohne Leer- und Zwischenräume, eine „runde“ Welt.

Wie wirkt sich dies auf die Transmission aus? Inwiefern könnte die allgemeine Desorientierung, die sich bei vielen Jugendlichen heute bemerkbar macht, darauf verweisen, dass die Transmission von einer Generation zur anderen nicht mehr in Funktion ist?

Um Fragen wie diesen nachzugehen, wurden Vertreter unterschiedlicher Disziplinen zu einer Debatte eingeladen. Die Veranstaltung verlief in zwei Sprachen, Deutsch und Französisch. Diese Doppelsprachigkeit machte gleichzeitig das enge Zusammenspiel zwischen Übersetzung und Transmission deutlich: So, wie bei der Übersetzung von einer Sprache in die andere die Worte nie die gleiche Konnotation beibehalten, ebenso müssen wir die Geschichte, die uns vorausgeht, in die eigene Sprache übersetzen, um sie uns anzueignen.

Der offene Charakter des Projekts zeigte sich unter anderen darin, dass während der Nacharbeitung weitere Texte hinzukamen. So fand anderthalb Jahre später am gleichen Ort – im Centre Culturel Franco-Allemand Karlsruhe – eine Ausstellung statt, die eine erstaunliche Koinzidenz mit dem Thema unserer Tagung aufzeigte. Die Künstlerin, eine Repräsentantin der dritten Generation nach der Shoah, hatte ein Kunst-Spiel-Objekt geschaffen, das in Anlehnung an die bekannten Ravensburger Spiele den Titel Memory trug. Mit dem Unterschied, dass man beim Aufdecken der Karten niemals auf das Gleiche trifft. Ein Erinnerungsspiel, das wieder Spielraum erlaubt, indem es die Dynamik der Transmission in Szene setzt. Auf Grund dieser Koinzidenz mit dem Thema der Tagung wurde der Text der Künstlerin dem vorliegenden Band beigefügt.

Um den Begriff der Transmission, wie er von der Psychoanalyse konzipiert wird, in seiner Komplexität zu erfassen, wurde versucht, die im Theorieteil dargestellten Zusammenhänge anhand unterschiedlicher Bereiche, in denen sich Transmission ereignen kann, anschaulich und somit auch dem nicht mit der Psychoanalyse vertrauten Leser zugänglich zu machen.


Cristina C. Burckas

Inhalt und Verzeichnis der Beiträge

VORWORT

I TRANSMISSION: VERSUCH EINER ANNÄHERUNG

  • ANDRÉ MICHELS; Was heißt Transmission?
  • CRISTINA C. BURCKAS: Transmission in der Generationenfolge
  • RUBEN FRANKENSTEIN: „Du sollst deinem Sohn erzählen“ Massoret – die identitätsstiftende Überlieferung
  • DANIEL LEMLER: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen

II TRANSMISSION: PERSÖNLICHE ERFAHRUNGEN

  • PASCALE LEMLER: Transmission des Unsagbaren
  • PASCALE LEMLER: Pages de Garde
  • PASCALE LEMLER: Pages de Garde, Übersetzung ins Deutsche
  • SABINE LEMLER: Regisseurin der szenischen Lesung von Pages de Garde
  • SABINE LEMLER: Das künstlerische Schaffen – Reise zwischen Ich und Du, zwischen Erinnerung und Geschichte
  • MARIE-FRANCE SCHÄFER: Die eigene Geschichte anders erfahren – Eine Arbeit mit Schülern
  • CATHERINE SCHUPPLI: Wenn Eltern schweigen – Krisen in der Adoleszenz
  • JENNIFER GRIFFITH: Der alte Karton auf dem Speicher – Eine persönliche Transmissionsgeschichte

III TRANSMISSION IN LITERATUR, KUNST UND ERZIEHUNG

  • HINRICH LÜHMANN: Übertragung im Unterricht
  • PIERRE MATTERN: Transmission und Erzählen – Begründungen des literarischen Erzählens bei Hans-Ulrich Treichel und Wilhelm Genazino
  • VANESSA LENZI: „Erinnerungsspiel“

Die AutorInnen

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