Details

Autor Ernaux, Annie
Verlag Suhrkamp
Auflage/ Erscheinungsjahr 17.08.2020
Format 22 × 14,2 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 110 Seiten
Gewicht 266
Reihe Bibliothek Suhrkamp, Band 1517
ISBN 9783518225172

Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux seziert es an sich selbst, indem sie weit zurückschwingt in eine eigentlich unfassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Zu diesem Buch

Juni 1952, die kleine Annie ist 12 Jahre alt. Eines Sonntagnachmittags geschieht etwas Entsetzliches – ohnmächtig muss sie miterleben, wie der Vater die Mutter umzubringen versucht. Nach kurzer Zeit beruhigt sich der Vater, und Annie versucht, den Eklat zu vergessen. Bis sie, nahezu ein halbes Jahrhundert später, auf ein altes Foto stößt, das eine Flut von Erinnerungen auslöst. Aber was genau ist damals geschehen? Und wie ist es dazu gekommen?

Je tiefer Annie in dieses entscheidende Jahr eintaucht, umso deutlicher wird ihr die Spannung, in der die Eltern lebten, zwischen dem Wunsch nach sozialem Aufstieg und dem demütigenden Rückfall in die alten Verhältnisse. Und auch Annies Zerrissenheit gewinnt an Kontur, ihr immer wieder schmerzhaftes Bemühen, dem Einfluss einer religiösen Erziehung zu entrinnen und der bohrenden Sehnsucht nach Aufbruch und einem besseren Leben zu folgen.

Textprobe

"An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen. Ich war wie immer zur Messe um Viertel vor zwölf gegangen. Wahrscheinlich hatte ich Kuchen mitgebracht, vom Bäcker im Einkaufszentrum, einer Gruppe von nach dem Krieg errichteten Gebäuden, ein Provisorium bis zum Ende des Wiederaufbaus. Zu Hause tauschte ich mein Sonntagskleid gegen ein anderes aus, das sich leichter waschen ließ. Nachdem alle Kunden und Gäste gegangen und am Lebensmittelgeschäft die Fensterläden angebracht worden waren, aßen wir zu Mittag, vermutlich lief das Radio, denn um diese Uhrzeit kam jeden Sonntag eine Unterhaltungssendung, Le tribunal, mit Yves Deniaud in der Rolle eines Lampenwärters, der ständig für die lächerlichsten Vergehen vor Gericht gestellt und von einem Richter mit bebender Stimme zu absurden Strafen verurteilt wird. Meine Mutter hatte schlechte Laune. Der Streit, den sie mit meinem Vater anfing, sobald sie am Tisch saß, dauerte die ganze Mahlzeit. Nachdem sie das Geschirr abgeräumt und das Wachstuch abgewischt hatte, machte sie meinem Vater weiter Vorwürfe, während sie in der winzigen Küche - eingezwängt zwischen Kneipe, Laden und Treppe zum ersten Stock - hin- und herlief; wie immer, wenn sie verärgert war. Mein Vater saß am Tisch, sah zum Fenster und antwortete nicht. Mit einem Mal begann er krampfartig zu zittern und zu keuchen. Er stand auf; und ich sah, wie er meine Mutter packte, sie in die Kneipe schleifte und mit rauer, fremder Stimme schrie. Ich floh in den ersten Stock und warf mich auf mein Bett, presste den Kopf ins Kissen. Dann hörte ich meine Mutter brüllen: »Tochter!« Ihre Stimme kam aus der Vorratskammer neben der Kneipe. Ich rannte die Treppe hinunter und rief, so laut ich konnte, um Hilfe. In der schlecht beleuchteten Vorratskammer hatte mein Vater meine Mutter mit der einen Hand an der Schulter oder am Hals gepackt. In der anderen hielt er das Beil, das er aus dem Klotz gerissen hatte. Ab hier erinnere ich mich nur noch an Tränen und Geschrei. Dann sind wir alle drei wieder in der Küche. Mein Vater sitzt am Fenster, meine Mutter steht am Herd, ich sitze unten auf der Treppe. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Mein Vater war noch nicht wieder normal, seine Hände zitterten und er hatte weiter diese fremde Stimme. Er wiederholte mehrmals: »Warum weinst du, dir habe ich doch nichts getan.« Ich erinnere mich an einen Satz, den ich gesagt habe: » Tu vas me faire gagner malheur«, du stürzt mich ins Unglück.[1] Meine Mutter murmelte: »Komm, es ist vorbei.« Hinterher machten wir zu dritt eine Radtour aufs Land. Nach unserer Rückkehr öffneten meine Eltern wie jeden Sonntagabend die Kneipe. Wir haben nie wieder über den Vorfall gesprochen. Es war der 15. Juni 1952. Das erste präzise und eindeutige Datum meiner Kindheit. Davor gibt es nur aufeinanderfolgende Tage und das Datum an der Schultafel oder oben in meinem Heft. (...)"

Stimmen zum Buch

»Erschütternd.«

Auf: Deutschlandfunk Kultur, 02.09.2020

»Annie Ernaux hat die soziologisch grundierte Selbsterforschung zur Meisterschaft gebracht. Nun erscheint ihr zentrales Werk Die Scham.«

Hanna Engelmeier, in der Süddeutsche Zeitung vom 24.08.2020

»Die Scham ist ein quälendes Gefühl der Unwürdigkeit und Unterlegenheit. Etwas, das dem Ideal der Chancengleichheit in einer demokratischen liberalen Gesellschaft zutiefst widerspricht und im Verborgenen rumort. Im Leben vieler Menschen. Auch in Deutschland, wo es erstaunlicherweise bislang keine Literatur gibt, die diese unangenehme Wahrheit so berührend und nüchtern, so klug und klar benennt wie Annie Ernaux.«

Auf: SWR, am 2 16.08.2020

»Die Ethnologin ihrer selbst, wie [Annie Ernaux] sich in diesem ernsten und absolut lesenswerten Buch explizit nennt, denkt die persönliche Scham weiter, positioniert ihre Familie in der Welt der Unterdrückten und entlarvt die soziale Determiniertheit. Das macht sie in der ihr eigenen, unverwechselbaren Schreibweise: klar, nüchtern und zuweilen trocken. Keine Metaphern, keine Gefühlsduseleien, nichts Überflüssiges.«

Susanne von Schenck, im Saarländischer Rundfunk, 19.08.2020

Die Autorin

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie zählt zu den bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit; ihre Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden.

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