Details

Autor Dörner, Klaus
Verlag CEP Europäische Verlagsanstalt
Auflage/ Erscheinungsjahr 1995
Format 19,0 × 12,5 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung broschiert
Seiten/ Spieldauer 362 Seiten
Reihe eva - TB, Band 227
SFB Artikelnummer (SFB_ID) SFB-001299_AC

Zu dieser Untersuchung

Der Aufstieg des ›Zeitalters der Vernunft‹, des Merkantilismus und des aufgeklärten Absolutismus vollzog sich in eins mit einer ganz neuen, bisher völlig unbekannt gewesenen ´Raumordnung`, welche rigoros alle Formen der Unvernunft demarkierte und jenseits der zivilen Verkehrs-, Sitten- und Arbeitswelt zu tilgen trachtete, kurz: der Vernunftwelt, hinter Schloß und Riegel verschwinden ließ: Bettler und Vagabunden, Besitz- Arbeits- und Berufslose, Verbrecher, politisch Auffällige und Häretiker, Dirnen, Wüstling und Alkoholiker, Idioten und Sonderlinge; aber auch mißliebige Ehefrauen, entjungferte Töchter und verschwenderische oder anderweitig unartige Söhne konnten im Bedarfsfall auf diese Weise durchaus ebenso problemlos aus dem Gesichtkreis der Normalen entfernt und in abseits gelegenen Anstalten verwahrt werden.

Europa überzog sich in der Folge der Aufklärung erstmals mit einem System von so etwas wie Internierungsanlagen für jene Menschen, die in ihren vielfäligen Inszenierungen von Widerborstigkeit den Normalen vielfältigsten Anlaß zu Ärgernis, Irritation und Ängstigungen gaben und folglich fortan abgesondert und weggesperrt gehörten.

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage / Vorwort zur zweiten Auflage

I. Einführung

  1. Absicht der Untersuchung: Selbstaufklärung der Psychatrie
  2. Zum Vorverständnis der Beziehung zwischen Psychiatrie und Soziologie
  3. Methoden der Untersuchung
  4. Historisches Vorfeld: die Ausgrenzung der Unvernunft

II. Grossbritanien

  1. Ausgrenzung der Unvernunft der Öffentlichkeit
    a) Begriffe der politischen Öffentlichkeit
    b) Hysterie und Identität des Bürgers
    c) Ausgriffe auf die Unvernunft
  2. Industrielle Revolution, Romantik, psychiatrisches Paradigma
    a) Sozioökonomische Konstellation
    b) Wiliam Battie
    c) Funktionalisierung der Hysterie
  3. Reformbewegung und Dialektik des Zwangs
    a) Krise - die liberale und die konservative Antwort
    b) Das »Retreat« oder die Verinnerlichung des Zwangs
    c) Versöhnung im System oder der unsichtbare Zwang

III Frankreich

  1. Theoretische und praktische Vorarbeit zur Aufhebung des Ancin Régieme
    a) Vitalisten und Aufklärer
    b) Rosseau und Mesmer
    c) Scheitern der Physiokraten-Reformen
  2. Revolution udn Emanzipation der Irren
    a) Arme und Irre in der Revolution; Medizinreform
    b) Die Medizin der Idéologues
    c) Pinel: historisches Paradigma und Befreiung zur administrastierten Moral
  3. Psychatrisch-soziologischer Positivismus
    a) Resturation und psychiatrische Reform
    b) Somatismus und Fortschritt

IV. Deutschland

  1. Merkantilismus und Bildungsbürhertum
    a) Peuplierungspolitik und Differenzierung der Ausgegrenzten
    b) Von der Aufklärung zum »Sturm und Drang«
    c) Kant und die »Erfahrungsselenkunde«
  2. Revolution von oben und das verhinderte psychiatrische Paradigma
    a) Medizinischer und romantischer Anstoß
    b) Preußens Reform und Frankreichs Einfluß
  3. Von der Restauration zum bürgerlich-naturwissenschaftlichen Liberalismus
    a) Naturphilosophische und theologische Psychiatrie
    b) Vormärz: »Somatiker« vs. »Psychiker«
    c) Revolution, Medizinalreform und psychiatrisches Paradigma (Griesinger)

SCHLUSSBEMERKUNG

V. Anhang

  • Kriterien der Psychiatrie-Geschichtsschreibung
  • Literaturverzeichnis
  • Namensregister
  • Sachregister

Vorwort des Autors

"Wie geht die bürgerliche Gesellschaft mit denen um, die, gemessen an ihrem Begriff der Vernunft, unvernünftig sind? Klaus Dörner zeigt die Tatsache und die Gründe, warum die bürgerlichen Gesellschaften in England, Frankreich und Deutschland erst im Zusammenhang mit der industriellkapitalistischen Revolution ihre psychisch Kranken als die Irren wahrnahmen: eine reich dokumentierte Geschichte der Psychiatire-Geschichtsschreibung, mit kritischem Überblick der
klassischen Werke und ihrer Tendenz.Bürger und Irre war seit seinem ersten Erscheinen 1969
bahnbrechend bei der Entstehung der Psychiatriebewegung in der Bundesrepublik und in Italien.

Die zahlreichen Einzeluntersuchungen, die in der Folge entstanden, die Übersetzungen in alle europäischen Sprachen zeigen, dass die Wirkung dieses Werkes ungebrochen ist. Solange psychisch Kranke bestenfalls nur den halben Pflegesatz im Vergleich zu körperlich Kranken zugesprochen bekommen, dauert die ungleiche Auseinandersetzung zwischen 'Bürgern' und 'armen Irren' an."

Klaus Dörner

Aus der Einführung

1. Absicht der Untersuchung: Selbstaufklärung der Psychiatrie

Seit Einstein und Heisenberg quälen sich die Naturwissenschaftler mit der Frage nach der Legitimität, nach der Berechtigung ihrer Tätigkeit angesichts der grenzenlosen Möglichkeiten, aber auch Gefahren der modernen Naturwissenschaft. Und es ist gut möglich, daß unser aller Leben mehr von der Ehrlichkeit und Stetigkeit dieses »Sich-Quälens« abhängt als von dem sonstigen Tun der Naturwissenschaftler. In diesem Zusammenhang definieren sie die »klassische« Naturwissenschaft als Einzelfall der modernen Naturwissenschaft, stellen Fragen nach der Rolle des Subjekts im naturwissenschaftlichen Kalkül, nach der ethischen Begründung der Machbarkeit des Machbaren, nach ihrer eigenen Geschichte, dem historischen Warum und Wozu ihres Handelns und nach den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingtheiten und Auswirkungen ihrer Arbeit. Kurz, nachdem die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts die Erkämpfung der Eigenständigkeit ihrer Wissenschaft durch Sprengung der Fesseln der Philosophie gefeiert hatten, bemühen sie sich im 20. Jahrhundert um die Wiederherstellung der handlungsorientierenden Bindungen des philosophischen Denkens. Sie quälen sich mit ihrer eigenen Selbstaufklärung.

Die Psychiater bzw. psychiatrisch Tätigen aller Berufe haben allen Anlaß, diesem Beispiel der exakten Naturwissenschaften zu folgen. Gegenüber der »klassischen Psychiatrie« können auch sie von schier grenzenlosen Möglichkeiten – z. B. der Psychotherapie, der Chemotherapie oder der soziotherapeutsch-gemeindepsychiatrischen Lokalisierung von Menschen – sprechen, aber auch von grenzenlosen Gefahren, wenn man nur an die Opfer der Gehirnoperationen seit den 30er Jahren oder der Euthanasieaktionen während der 40er Jahre denkt. Was die Atombombe von Hiroshima für die Physik ist, sind die Gaskammern von Hadamar für die Psychiatrie.

Dennoch tun sich die Psychiater schwerer als die Physiker, obwohl es in beiden Fällen um dieselbe Frage geht, die nach der Grenze zwischen erlaubten und unerlaubten Beziehungen zwischen Menschen. Erst in der jüngsten Zeit nimmt die Bereitschaft der psychiatrisch Tätigen zu, sich angesichts der eigenen Geschichte der Aufgabe der Selbstaufklärung zu stellen. Diese Untersuchung möchte die Bereitschaft hierzu fördern, die Bereitschaft, das alltägliche Handeln mit dem Nachdenken über die Wahrheit dieses Handelns zu begleiten. Die Untersuchung beschäftigt sich nur mit einer der oben angedeuteten lebensnotwendigen Fragen: der Frage nach der Entstehung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft. Angesichts der Tatsache, daß die europäischen Nationen auf einem bestimmten Stand ihrer gesellschaftlichen Entwicklung ein spezielles psychiatrisches Versorgungssystem und eine ebensolche Wissenschaft ausgebildet haben, ist die Frage berechtigt: Warum ist überhaupt Psychiatrie und nicht vielmehr keine Psychiatrie? Es ist dies eine Frage nach dem Grund der Psychiatrie, nach ihren Ursachen, Bedingungen und damit auch nach ihren Aufgaben und ihrem Zweck. Der Titel Bürger und Irre besagt, daß das Verhältnis zwischen den Irren und der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, deren auf die Irren professionell bezogene Stellvertreter die Psychiater sind, erörtert wird. Dabei muß jedoch gleich eingeschränkt werden, daß das Verhältnis zwischen Bürgern und Irren mehr in der Sicht der Bürger bzw. Psychiater und weniger in der Sicht der Irren dargestellt wird, da mir zum Zeitpunkt der Niederschrift der Studie für eine gleichgewichtige Beschreibung des Wechselverhältnisses zwischen Bürgern und Irren die erforderlichen Quellen und methodischen Voraussetzungen noch fehlten. Erst 1980 hat der Historiker Blasius den ersten schüchternen Versuch unternommen, die Geschichte der Psychiatrie aus der Perspektive der Irren, also der Betroffenen darzustellen. Hier wartet noch viel Arbeit. Sind im Selbstverständnis der Psychiater die Irren »Gegenstand« der Psychiatrie, so macht diese Untersuchung immerhin Irre und Psychiater-Bürger zugleich zu ihrem »Gegenstand« und sucht die sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen zu ermitteln, unter denen im Zusammenhang mit der politischen und industriell-kapitalistischen Revolution der bürgerlichen Gesellschaft auch jenes Verhältnis von Bürgern und Irren entstand, das die Institution und Wissenschaft Psychiatrie begründete. In diesem Rahmen lenkt die Untersuchung die Aufmerksamkeit vor allem auf drei Probleme, die ihr ein über den Fall der Psychiatrie hinausgehendes, allgemeines Interesse verleihen könnten. Erstens wird die Dialektik aller modernen Wissenschaft verfolgt, die Dialektik zwischen ihrem Anspruch auf Emanzipation des Menschen als Einlösung des Versprechens der Aufklärung einerseits und ihrer oft entgegengesetzten Wirkung der Rationalisierung, Integration und Kontrollierbarkeit des je bestehenden Gesellschaftssystems andererseits. Zweitens zwingt die Tatsache, daß die Bürger die Psychiatrie gerade zur Domestizierung der armen Irren eingesetzt haben, dazu, in diesem Vorgang auch ein Moment des Klassenkampfes und eine der ersten Lösungen der aufkommenden »sozialen Frage« zu sehen, so daß die Untersuchung nicht nur zur Selbstreflexion der Psychiatrie beiträgt, sondern zugleich über eine bisher vergessene Wurzel und Vorform der Soziologie berichtet. Drittens endlich steht zur Diskussion das Wechselverhältnis von Vernunft und Unvernunft – u. a. als Gesundheit und Krankheit –, in der äußeren Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie in der inneren Ökonomie ihrer Mitglieder. (...)"

Der Autor

Prof. Dr. Klaus Dörner, geboren 1933, ehemals leitender Arzt des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Gütersloh und Professor für Psychiatrie der Universität Witten-Herdecke, Mitinitiator der Reformbewegung in der Psychiatrie.

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Bei der SFB ist dieser gefragte Titel in verlagsfrischen und folienverschweißten Archivexemplaren verfügbar; beim Verlag vergriffen. Die für 2015 angedachte gewesene Neuausgabe wurde nicht realisiert.

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