Details

Autor Altmeyer, Martin
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Auflage/ Erscheinungsjahr 2016
Format 20,5 × 12,3 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 280 Seiten
ISBN 9783525462720

Zu diesem Buch

Das Alltagsleben, Kommunikationsverhältnisse und die Mentalität von Menschen weltweit wurde innert allerkürzester Frist von den Errungenschaften der vom Autror so genannten "digitalen Moderne" revolutioniert. Martin Altmeyer untersucht, ob und wie in diesen digatalisierten Datenaustauschgesellschaften psychosoziale Veränderungen stattfinden und wie diese sich auf den einzelnen und die Gesellschaft auswirken. Er vertritt eine milde, um nicht zu sagen hoffnungsvoll-blauäugige Position bezüglich der Möglichkeiten und Folgen dieser erst am Anfang stehenden Digitalisierung des Gemeinwesens und seiner Teilnehmer. Die massenhafte Inanspruchnahme - andere sprechen von mit aller Werbemacht gepushten digitalen Abhängigkeitsverhältnissen - der Kommunikationstechnologien ist für den Autor eher ein Beleg für deren Nutzen und Sinnhaftigkeit. 

Für Altmeyer ist das Seelenleben im Internetzeitalter vom Wunsch nach zwischenmenschlicher Kommunikation bestimmt, von einer Sehnsucht nach Spiegelung, nach einem Echo aus der Lebenswelt, vom Verlangen danach, von anderen Menschen gesehen und gehört zu werden, weshalb immer häufiger gemailt, getwittert, gechatter, ge-smst werde, höchstens unterbrochen von Ruhe- oder Chillphasen, indem über Ohrstecker der eigene Lebensraum akustisch ortsunabhängig beschallt wird. (Wie mag vor dieser Geräuschkulisse erkenntnisgeleitetes (Nach-)Denken, Reflexion, Resümieren, Mentalisieren möglich werden?).

Martin Altmeyer sieht in diesen synthetischen Formen der Kontakte und ihrer Anbahnungen nichts Negatives, Abträgliches, drücke die Intensität mit der hier gepostet, gechattet und elektronische Freunde um sich geschart werde doch allemal das menschliche Grundbedürfnis nach Komminikation, nach Beachtung, Teilhabe und Anerkennung aus. Was sollte daran verwerflich sein?

Altmayer in seinem Vorwort: "(...) Den unter kritischen Intellektuellen weit verbreiteten Manipulations- oder Pathologieverdacht gegenüber der medialisierten Gesellschaft teile ich nicht. Deshalb sammle ich dafür auch keine Beweise.

Meine eigene Sicht ist vielmehr wohlwollend und meine Untersuchungsmethode eher der Ethnologie abgeschaut, die sich ihrem Gegenstand nicht aus einer urteilenden Position, sondern aus der einer teilnehmenden Beobachtung nähert. Dazu bedarf es freilich einer unvoreingenommenen, am Neuartigen, Ungewohnten und Befremdlichen interessierten Grundeinstellung, die im moderne kritischen Ressentiment leicht verloren geht.

Daß die heutige Mediengesellschaft tatsächlich attraktiv ist, lässt sich schon an bloßen Zahlen ablesen. Drei Viertel der europäischen Privathaushalte verfügt bereits über einen Online-Anschluss, Tendenz steigend.  Die mobile Verwendung des Internets über Smartphones und Tablet-Computer nimmt rapide zu, vor allem unter der Jugend , bei der auch das interaktive Fernsehen die höchsten Einschaltquoten erzielt. Die sozialen Netzwerke, die es überhaupt erst  seit 2004 gibt, erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Stellen wir uns nur einmal die Facebook-Gemeinde als eigene Gesellschaft vor: Mit zum Jahresende 2015 über 1,5 Milliarden Einwohnern wäre sie die größte Nation der Erde und mit einem weltweiten Durchschnittsalter von unter dreißig Jahren auch die jüngste.

Manche Modernekritiker sehen sich durch solche Zahlen geradezu bestätigt, belegen sie doch aus ihrer Sicht einen psychosozialen Verfall im Weltmaßstab. Darauf stützen sie ihre Zeitdiagnosen eines
informationskapitalistischen Totalitarismus, ganz gleich ob sie das mit den begrifflichen Mitteln der Psychoanalyse, der Gesellschaftstheorieoder des Romans tun. Sie wollen eine totalitäre Entwicklung
erkannt haben, der sich die narzisstisch bedürftigen Individuen auch noch widerstandslos auslieferten. Im Grunde suggerieren sie, daß die digitale eine mentale Revolution ist, die längst die Seelen erfasst
hat. Ich glaube das übrigens auch. Nur halte ich das nicht für einen Prozess der Zersetzung, sondern der Öffnung: Die Mediengesellschaft verändert das Verhältnis von Innen- und Außenwelt, indem
sie soziale und psychische Sperren beseitigt. Inwiefern und auf welche Weise erreicht sie das?

Die digitale Moderne macht es ihren Bewohnern einfacher, miteinander Verbindungen aufzunehmen und zu kommunizieren, sich füreinander zu öffnen, sich untereinander auszutauschen und voneinander Antworten zu bekommen. Damit trägt sie zur Befriedigung eines zwischenmenschlichen Grundbedürfnisses bei. Im zeittypischen Drang zur medialen Sichtbarkeit wird nämlich ein elementares Resonanzverlangen erkennbar, das zum sozialen Fundament der Conditio humana gehört und schon den Säugling mit seiner Umwelt verbindet. Selbstverständlich machen die neuen Medien die Menschen, die sich ihrer bedienen, nicht besser und die Gesellschaften, in denen sie leben, nicht humaner. Aber sie bilden ein historisch einzigartiges, allen zugängliches Resonanzsystem, unter dessen Spiegel-, Echo- und Verstärkerwirkungen sich die Menschen stärker aufeinander beziehen – im Guten wie im Bösen. Das ist der Kern der hier vorgelegten Zeitdiagnose. (...)"

Aus dem Inhalt

  • Einleitung: Das Ende der Unsichtbarkeit

Identitätsspiele mit Kamera: Das moderne Selbst in einer Ökonomie  der Aufmerksamkeit

  1. Ein zeitgenössisches Gesellschaftsspiel: Der Massenwettbewerb um soziale Identität
    a) Warum wir digitale Selbstporträts verschicken – die Blitzkarriere des Selfie
    b) Wobei Menschen überall zuschauen sollen – kleines Panoptikum der Zeigelust
    c) Wie auch die Kulturprominenz das mediale Identitätsspiel genießt – Sphären der gehobenen Aufmerksamkeitsökonomie
  2. Ein Blick hinter die Kulissen: Authentizität als Edelware der Medienwelt
    a) Neugier – auf der Suche nach dem Menschen hinter der Medienfigur
    b) Rätsel – die Botschaft des Mediums im submedialen Raum
    c) Geheimnis – Exkurs über Realität in der Gegenwartskunst
    d) Hoffnung – wer die Büchse der Pandora öffnet
  3. Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft: Ich werde gesehen, also bin ich!
    a) Mentaler Kapitalismus – Bewirtschafte deine Persönlichkeit!
    b) Demokratisierung des medialen Narzissmus – Die Kamera liebt dich!
    c) Einladung auf die Schaubühnen der Lebenswelt – Zeig uns, wer du bist!

Big Brother als Big Mother: Die Lust an öffentlicher Selbstdarstellung

  1. Sichtbarkeit für alle: Das interaktive Fernsehen bittet auf die Schaubühnen der Lebenswelt
    a) Ein Dreieck des Begehrens – das Medium zwischen Darsteller und Publikum
    b) Der Untergang des Abendlandes – Kulturkritik im Modus des Ressentiments
    c) Die Verteidigung eines Medienprivilegs – im Verachtungsdiskurs der Eliten
  2. Das Zwischenmenschliche wird interessant: Die soziale Dramaturgie von »Big Brother«
    a) Beachtung oder Überwachung – ein Dilemma der neuen Medienwelt
    b) Unverfälschtes Gruppenleben – eine Wohngemeinschaft unter Beobachtung
    c) Die Geburt von Kultfiguren der Spaßgesellschaft – das Medium in Hebammenfunktion
  3. Ein echtes Abenteuer unter freiem Himmel: Der exotische Reiz des »Dschungelcamps«
    a) Mediale Auffrischungskur unter Stress – Ich war mal ein Star, holt mich hier raus
    b) Ausweitung der Zielgruppe – mit Alt-Achtundsechzigern das gebildete Publikum ködern
    c) Bilanzen im Urwaldkampf – eine narzisstische Gewinn- und Verlustrechnung

Hoffen auf Umweltresonanz: Die unbewußte Kehrseite des Narzissmus

  1. Zwischen Innen und Außen: Die Scharnierfunktion des Unbewußten
    a) Vom Trieb zur Beziehung – die relationale Wende der modernen Psychoanalyse
    b) Das Unbewusste ist kein Rebell – sondern ein sozialer Konformist
    c) Die vernetzte Seele – der entwicklungs-psychologische Abschied von der Monadentheorie
  2. Im Spiegel des Anderen: Ein Beziehungsmodell des Narzissmus
    a) Ich werde gesehen, also bin ich – eine moderne Identitätsformel
    b) Zwischen Selbst und Welt vermitteln – die schöpferische Funktion des Narzissmus
    c) Den Anderen betrachten, wie er mich betrachtet – die narzisstische Urszene

Angreifen vor Publikum: Gewalt als demonstrative Machtinszenierung

  1. Morden im Rampenlicht: Ein grandioses Selbst läuft Amok
    a) Das Phantasma von Unbesiegbarkeit und Unsterblichkeit – der Columbine-Effekt
    b) Der Täter ist keine Marionette, an der  andere ziehen – das Schulmassaker von Erfurt
    c) Allmacht, Vorphantasie, Nachruhm – die performative Selbsterschaffung im Gewaltakt
    d) Anpassungsverweigerung, Freiheitspathos, Mordlust – eine Blaupause sozialrebellischer Gewalt
  2. Weder von innen noch von außen: Vernichtungswut entsteht zwischen den Menschen
    a) Eine fatale Beziehungsstörung – soziale Metamorphosen des Todestriebs
    b) Ein großartiges Gefühl – von der Ursachenforschung zur
    Phänomenologie der Gewalt
    c) Täter, Opfer, Publikum – zur Dreiecksstruktur zeitgenössischer Gewalt
  3. Die Krieger des Guten: Über das Töten im Namen höherer Moral
    a) Gruppengewalt – wie unauffällige Menschen zu Massenmördern werden
    b) Kunstwerke des Bösen – zur medialen Inszenierung des religiösen Terrors
    c) Die Welt als Ganzheit – mentale Verwandtschaftsbeziehungen zwischen totalitären Massenbewegungen
    d) Eine Kultur der Niederlage und die Figur des radikalen Verlierers

Verbindungen zur Welt knüpfen: Die zeitgenössische Psyche als soziale Netzwerkerin

  1. Die menschliche Seele: Ein kompliziertes Beziehungsorgan
    a) Damit das Ich nicht aus der Welt fällt – die Integrationsaufgabe der Psyche
    b) Soziale Resonanz – ein seelisches Bindemittel der ersten Stunde
    c) Sichtbarkeit gegen Unsichtbarkeit – eine Paradoxie des Seelenlebens
  2. Strukturwandel der Öffentlichkeit: Die Flucht aus der sozialen Anonymität
    a) Kolonialisierung oder Befreiung – die Modernisierung der Lebenswelt
    b) Niedergang oder Fortschritt – wie das Neue verkannt wird
    c) Zwang oder Lust – das Bedürfnis nach Selbstdarstellung
    d) Entdeckung oder Erfindung – die Avantgarde der Internetpioniere
  3. Ein zeitgemäßer Persönlichkeitstyp: Das exzentrische Selbst als moderner Sozialcharakter
    a) Eine Wende in der Generationendynamik – die Umkehrung des Ödipuskomplexes
    b) Ein Ende des seelischen Heldentums – auf dem Weg zur postheroischen Persönlichkeit
    c) Exzentrik im Profisport – Exkurs zur Modernisierung des Fußballs
    d) Aus sich herausgehen – um der Welt zu zeigen, was in einem steckt.

Über den Autor

Martin Altmeyer, Dr. rer. med. habil., ist Klinischer Psychologe und arbeitet in eigener Praxis in Frankfurt am Main.

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