Details

Autor Menasse, Eva
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Auflage/ Erscheinungsjahr 02.11.2023
Format 19.3 × 12 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Hardcover
Seiten/ Spieldauer 192 Seiten
Gewicht 240
ISBN 9783462000597

Zu diesem Buch

Zieht sich eine liberale Gesellschaft gerade jenen als sicher gewähnten Boden weg, auf dem sie so lange sicher und unangefochten zu fußen wähnte? Der Autorin ist ein an Fakten und Beispielen reicher Essay darüber gelungen, was die digitale Massenkommunikation zwischenmenschlich anrichtet.

Nichts hat das Zusammenleben der Menschen in kürzester Frist so umfassend verändert wie die Digitalisierung der Kommunikation und technischen Abläufe: Die Menschen denken, fühlen und streiten anders, seit sie großteils dauervernetzt und dauerberieselt sind. Das menschliche Hirn diesen häufig aufgeschäumten elektronischen Dateneinschwemmungen in aller Rergel nicht gewachsen.

Die Auswirkungen betreffen alle, egal, wie sehr sie die neuen Medien überhaupt nutzen, und über den bedenklichen Befund für jeden einzelnen ist die mit aller Macht oktroyierte digitale ´Zeitenwende` längst zu einem Stresstest für die Gesellschaft geworden. - Prognostisch Betrachtet äußerst schlechte Aussichten für das Wohl und den Bestand des Gemein-Wesens ...

Demokratiepolitisch bedeutsam wird dieer Aspekt bei der vielbeschworenen Debattenkultur. Denn die häufig asoszialen Umgangsformen in den sogenannten "Sozialen" Medien haben längst auch auf die anderen Arenen in der realen Welt übergegriffen, Politik und Journalismus spielen schon vielfach nach den neuen, erbarmungsloseren Regeln. Früher anerkannte Autoritäten werden im Dutzend abgeräumt, ohne dass neue nachkommen, an die Stelle des besseren Arguments ist die knappe Delegitimierung des Gegners getreten. Eine funktionierende Öffentlichkeit – als Marktplatz der Meinungen und Ort gesellschaftlicher Klärung – scheint es, wenn überhaupt, nur noch in Bruchstücken zu geben.

In ihrem Essay kreist Eva Menasse um die Fragen, die sie seit vielen Jahren beschäftigen: vor allem um einen offenbar hoch ansteckenden Irrationalismus und eine ätzende Skepsis, vor denen niemand gefeit ist.

Leseprobe - Aus dem ersten Kapitel - "Zeitenwende"

(...) "Ohne Zweifel gibt es die analoge Welt noch. Dort stinken die Mülltonnen und müssen die Nabelschnüre Neugeborener hündisch von Erwachsenen durchschnitten werden. Früchte reifen ohne Zutun und verfaulen wieder, Vulkane brechen aus, Wüsten entstehen, Gletscher vergehen. Es gibt dort draußen Blut und Tränen, Schimmel, Lärm, Vogelgesang und Erdbeben. Es gibt echten Zufall, spontane Liebe, unaufklärbare Verbrechen, Mutationen und Geheimnisse. Und es gibt typisch menschliches Verhalten, darunter Ängste, die sich in Jahrmillionen körperlich eingeschrieben haben und weitervererbt werden. Menschen fürchten sich intuitiv immer noch vor Skorpionen und Schlangen anstatt vor Autos.

So bestürzend langsam ist dieses Säugetier, einerseits. Seine durchschnittliche Lebenserwartung mag sich, zumindest für die in Industriestaaten lebenden Exemplare, binnen zweihundert Jahren mehr als verdoppelt haben; im Vergleich zu der Zeit, die seine Reaktions- und Verhaltensmuster gebraucht haben, um sich auszubilden, ist das nicht einmal ein Wimpernschlag.

Andererseits verheddert sich das hochmütige, himmelsstürmende Säugetier augenscheinlich immer häufiger in seinen eigenen Erfindungen. Das ist ihm schon früher widerfahren, als es Waffen schuf, die weiter entfernt töteten, als seine Augen sehen konnten, als es Bomben baute, die Landstriche auslöschten und auf Jahrzehnte kontaminierten, als es versuchte, sich zu klonen, und begann, in die eigenen genetischen Strukturen einzugreifen. Inzwischen züchtet es sowohl Fleisch wie Intelligenz im Labor. Faszinierend bleibt, dass es seinen potenziell lebensbedrohlichen Ehrgeiz selbst immer künstlerisch-analytisch begleitet hat. Es dachte sich Ikaros aus, der zu nah an die Sonne flog, sodass seine künstlichen Flügel schmolzen, Midas, der in seiner Gier zu ungenau wünschte und verhungern und verdursten musste, weil ihm auch Wasser und Brot zu Gold wurden, eben alles, was er berührte. Und ein wiederkehrendes Motiv ist das vom vergessenen Zauberspruch, von der verlorenen Kontrolle über die eigenen Schöpfungen. Im Märchen vom süßen Brei, dem kürzesten der Brüder Grimm, wird eine ganze Stadt unter dem Hirsebrei begraben wie Pompeji unter dem Lavastrom, weil nicht das hungrige Kind, sondern seine Mutter den magischen Topf in Betrieb genommen hat und nicht mehr zu stoppen vermag. Dasselbe Motiv goss Goethe in seiner Ballade vom »Zauberlehrling« in eine ewig gültige Form: »Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.«

Man könnte sich also gelangweilt zurücklehnen, unauffällig auf dem iPhone die Weltlage überfliegen, die privaten Nachrichten checken, nach einem Flug googeln oder ein Pornobild verschicken und dabei denken: Es ist bloß technischer Fortschritt, vor fünfzig Jahren noch so unvorstellbar wie hundert Jahre davor die Passagierluftfahrt. Das Leben wird immer leichter, Wissen und Möglichkeiten explodieren einerseits und sind doch, betörendes Paradox, theoretisch für alle erreichbar. Ängstliche und Skeptiker hat es ebenfalls immer gegeben. Wisst ihr noch? Damals, als die erste Eisenbahn fuhr, dachten manche, die inneren Organe des Menschen würden die vierundzwanzig Stundenkilometer nicht vertragen, könnten innerlich abreißen und einander tödlich beschädigen. Damals, als die ersten Fotografien gemacht wurden, glaubten manche, der Apparat stehle ihnen die Seele. Und in Wahrheit? Machen wir immer weiter, schicken wir Sonden zum Mars, setzen wir Stents in Herzkranzgefäße, fast so leicht, wie man Glühbirnen einschraubt, haben wir Kühlschränke, die selbständig Milch und Butter nachbestellen, und Roboter, die unsere Gefühle erkennen und zum Trost halbwegs glaubhafte Liebesbriefe schreiben." (...)

Die Autorin

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

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