Details

Autor Strenger, Carlo
Verlag Suhrkamp
Auflage/ Erscheinungsjahr Originalausgabe; 15.01.2017
Format 21,6 × 13,4 cm
Einbandart/ Medium/ Ausstattung Paperback
Seiten/ Spieldauer 122 Seiten
Gewicht 202
ISBN 9783518071441

Zu diesem Essay

Nachdem Carlo Strenger in »Zivilisierte Verachtung« gezeigt hat, weshalb es westlichen Gesellschaften heute oft schwerfällt, ihre Werte selbstbewusst zu verteidigen, wendet er sich in seinem neuen Buch der individuellen Seite dieser Verunsicherung zu: Warum leiden so viele Menschen unter Depressionen und einer erdrückenden Angst vor dem Scheitern? Warum boomen Heilslehren, die uns den Weg zum wahren Selbst weisen wollen?

All das hat für Strenger viel damit zu tun, daß es sich bei der verbreiteten Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein Grundrecht auf Rundrumsicherheit, auf ein müheloses Vollkaskoglück, um eine Illusion, einen frommen - und verständlichen - Wunsch handelt.

Ausgehend von Denkern wie Spinoza, Nietzsche und Freud legt Carlo Strenger dar, daß deren Erkenntnisse und Überzeugung, Konflikte, Krisen und Scheitern gehörten unabwendbar zur menschlichen Natur, in den digitalisierten und narzißtisch aufgeladenen Zeiten massiv verleugnet würden.

Daher, so schließt er aus den Lektüren der Biografien von Künstlern wie James Joyce, Pablo Picasso und Francis Ford Coppola, sollte man - insbesondere wenn man selbst an disponierter Stelle mit anderen Menschen in Schule, Therapie, Beratung arbeitet - diese eigentlich banale Lebenserkenntnis für sich verinnerlicht haben: Leben und das Leben und Zusammenleben in freiheitlichem Rahmen stellen eine lebenslange Herausforderung und Aufgabe für den einzelnen und die Gesellschaft dar. Das Leben ist ein einziges Abenteuer, vielfach durch Gruppe, Nationalität, Elternhaus prädisponiert und immer ein persönlicher (Reifungs-)Prozess, für dessen Weg und Ausgan es keine Garantiescheine gibt, so wie es eine Werbe-, Schönheits-, Wellness- und häufig auch eine Therapie- und Selbstoptimierungsindustrie weismachen will.

Aus dem Vorwort des Autors

Ist die westliche Kultur noch zu retten?

"Ein Abend in einem der zahllosen Multiplex-Kinos, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Boden geschossen sind, kann einen leicht auf den Gedanken bringen, der Westen sei hoffnungslos verloren – und der Rettung vielleicht gar nicht wert. Überlebensgroße Plastikfiguren von Filmstars, Fantasy-Helden wie Batman oder Shrek und Fastfood-Stände säumen die endlosen Korridore. Der Duft von Popcorn verleitet Hunderte dazu, riesige Packungen zu kaufen, bevor sie in den Kinosaal strömen, wo erst einmal zwanzig Minuten lang nur Werbung und Trailer laufen. Und nach dem Film fragt man sich dann meist, warum Dutzende Millionen für Effekte verpulvert wurden, die eigentlich nur verbergen, dass das Drehbuch der reine Humbug ist, trivial und voller logischer Fehler. In solchen Momenten liegt der Schluss nahe, die westliche Konsumgesellschaft sei dem Untergang geweiht. Kein Mensch, dem etwas an Kultur liege, könne ernsthaft ihr Ende – ob nun durch eine ökologische Katastrophe oder eine Serie von Terroranschlägen – betrauern.

Ähnliche Gedanken mögen einem in den Shopping Malls, den Kathedralen des Konsums, durch den Kopf schießen oder wenn Apple mal wieder ein neues iPhone auf den Markt bringt und Tausende Jünger die ganze Nacht in der Kälte ausharren, als erwarteten sie die Wiederkunft Christi. Und tatsächlich mangelt es nicht an Schriftstellern und Intellektuellen wie Michel Houellebecq, David Foster Wallace oder John Gray, die den Untergang des Westens nicht nur voraussagen, sondern beinahe herbeisehnen.

In diesem Essay möchte ich eine Diagnose für diese Malaise des Westens anbieten. Die größte Leistung der westlichen Moderne besteht darin, es den Individuen ermöglicht zu haben, ihr Leben frei nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten, und ihnen ein breites Spektrum von Lebensformen und -stilen zur Verfügung zu stellen. Diese Verwöhn- und Konsummentalität ist das Resultat einer höchst unwahrscheinlichen historischen Periode. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs genoss der Westen Jahrzehnte des wirtschaftlichen Wachstums und des technologischen Fortschritts, wie es sie in der menschlichen Geschichte nie zuvor gegeben hatte. In dieser Zeit sind drei Generationen herangewachsen, deren Angehörige die freiheitliche Ordnung als gegeben voraussetzen. Glück halten sie für etwas, auf das jeder Einzelne ein Anrecht hat, und wem es verwehrt wird, der wendet sich mit der Forderung nach einem besseren Leben an die Eltern oder »die Gesellschaft«. Und wenn schon kein neues Leben zu haben ist, so erwartet man zumindest, dass die Pharmakologie und die Medizin das Unglück, das von diesen Mängeln verursacht wird, heilen oder doch wenigstens mildern.

Eine der Grundthesen dieses Essays ist, dass diese Konsummentalität und der Mangel an bürgerlicher Verantwortung auf einen Mythos zurückzuführen sind, der von Jean-Jacques Rousseau am prägnantesten formuliert wurde: Die Menschen seien frei geboren und doch überall in Ketten. Gemäß dieser romantischen Freiheitskonzeption hat jeder Mensch ein unverdorbenes, wahres Selbst, dem nur Raum geschaffen werden müsse, um sein volles Potenzial auszuschöpfen. Rousseau ging davon aus, dass Menschen zu verantwortlichen, moralischen und freien Subjekten würden, wenn sie nur nicht von der Gesellschaft verdorben würden. Dieser Mythos des wahren Selbst, das angeblich in uns allen schlummert, hat die westliche Welt vor allem seit den 1960er Jahren entscheidend geprägt (einige Neuformulierungen dieses Mythos in der modernen Populärpsychologie werde ich unten ausführlicher behandeln).

Dem rousseauschen Mythos steht eine Position gegenüber, die seit der klassischen griechischen Philosophie in verschiedenen Varianten vertreten wurde: Freiheit als eine Errungenschaft, für die Menschen lebenslang hart arbeiten müssten. Die Disziplin, die eigene Natur zu verstehen, einzusehen, welche unserer Begierden notwendig sind und welche uns nur unfrei machen, müsse täglich trainiert werden und sei deshalb nur den wenigen zugänglich, die die Muße für diese Arbeit haben – und die dazu den Willen aufbringen. Diese Position wurde in der Renaissance von Montaigne in seinen berühmten Essais wiederaufgenommen und von Spinoza zu einem philosophischen System entwickelt. Sigmund Freud war der Denker, der diese klassische Freiheitskonzeption in der Sprache der modernen Naturwissenschaften neu formulierte und das geistige Training in der Psychoanalyse zu einer therapeutischen Praxis entwickelte.

Wie ich im zweiten Teil dieses Essays zeigen werde, sind Freuds spezifische Thesen zwar von den modernen kognitiven Neurowissenschaften verworfen worden – nicht aber seine Grundposition, Freiheit und Glück seien keine Geburtsrechte. Wirkliche Freiheit sei bestenfalls eine Errungenschaft, die nur durch harte Arbeit erworben werden könne, eine These die auch ich hier vertreten werde. Gemäß dieser Auffassung sind persönliche und politische Freiheit überaus komplexe kulturelle Schöpfungen, die an die Mitglieder freier Gesellschaften hohe Ansprüche stellen. Die Dynamik des Erwachsenwerdens besteht darin, dass wir für uns selbst immer mehr Verantwortung übernehmen müssen und dass uns immer seltener, wenn überhaupt, vorgeschrieben wird, was wir zu tun haben, so dass unsere Freiheit zunimmt. Wir wählen unsere Verpflichtungen und den Grad, in dem wir ihnen nachkommen wollen, ob nun im persönlichen, gesellschaftlichen, beruflichen oder öffentlichen Bereich. (...)"

Der Autor

Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für den britischen Guardian und Israels führende liberale Zeitung Haaretz.

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